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Fiat 600 Multipla

Der Geniestreich

Darauf haben wir nun lange warten müssen: eine Ausfahrt mit einem Fiat 600 Multipla. Den buchstäblich kleinen Traum erfüllt hat uns www.oldtimergalerie.ch – mit einem sehr hübschen Exemplar, das am 29.12. in Gstaad zur Versteigerung kommt. Doch bevor wir von unseren Erlebnissen berichten wollen, sei doch die Geschichte dieses so aussergewöhnlichen Fahrzeugs erzählt.

Von 1936 bis 1955 baute Fiat den 500, im Volksmund liebevoll «Topolino» genannt. 516’646 Stück wurden verkauft, man darf den 500 getrost als den ersten «Volkswagen» bezeichnen. Konstrukteur der wunderbaren Konstruktion war Dante Giacosa – und er schenkte dem Topolino auch eine Kombi-Variante, die Giardiniera. Doch nach dem 2. Weltkrieg war der 500 eigentlich veraltet, es musste ein neues Modell her. Und nein, der wahre Nachfolger des Topolino war nicht das Modell mit der Bezeichnung 500 (Nuova 500, um genau zu sein), das kam erst 1957 auf den Markt (Konstrukteur: Dante Giacosa), sondern eigentlich der 600, der 1955 vorgestellt worden war (Konstrukteur: Dante Giacosa).

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Der 600 war ein hervorragendes, herausragendes Automobil – es gibt eigentlich keinen Grund, warum er später so sehr im Schatten des Nuova 500 stand, denn der war nur ein kleinerer, spartanischer Bruder. Der 600 war eine geniale Konstruktion, 3,29 Meter lang – und doch bot er vier Personen wirklich ausreichend Platz. Und bot einige technische Leckerbissen, wie sie damals einzigartig waren. Und warum war er so winzig? Ganz einfach, weil es in Italien auch in den 50er Jahren noch nicht genug Stahl gab, deshalb hatte die Chefetage von Fiat Giacosa die Vorgabe gemacht, das neue Fahrzeug so kurz und schmal zu konstruieren wie nur möglich. Der «progetto 100», wie der 600er intern hiess, wurde im Juli 1953 von der Fiat-Leitung abgesegnet – und gleichzeitig kam auch das Ja-Wort für eine aussergewöhnliche Kombi-Variante, die später als 600 Multipla berühmt wurde (zuerst aber noch als 100 Familiare geführt worden war).

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Giacosa schreibt in seinen Memoiren, dass ihm kein anderes Fahrzeug in seiner langen Karriere derart viel Kopfzerbrechen bereitet hatte wie der Multipla. Es musste wieder einen Kombi geben, das war von Anfang an klar, vom Topolino hatte es ein solches Modell auch im Angebot gehabt. Und ausserdem hatte VW mit seinem, auf dem Käfer basierenden Bulli in Deutschland ab Anfang der 50er Jahre grossen Erfolg – Fiat wollte sich auf dem Markt der Kleintransporter die Butter nicht vom Brot nehmen lassen. Und überhaupt waren es gute Zeiten für solche Fahrzeuge in den 50er Jahren, all die Metzger, Maler und Bäcker wollten auch endlich motorisiert werden.

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Die Lösung, die Giacosa präsentierte, war schlicht genial. Er rückte einfach alles, was nach vorne gehen konnte, nach vorne, inklusive dem Fahrerstuhl, der quasi auf der Vorderachse – die übrigens aus dem Fiat 1100 stammt – sitzt. Es entstand so ein Frontlenker, der später Vorbild für alle so genannten MPV/Minivans werden sollte. Nur, dass Giacosa noch extremer war: auf genau zwei Metern Radstand baute er bis zu drei Sitzreihen ein – und umhüllte das Ganze mit einem Minimum an Blech, genau so, wie die Vorgaben gewesen waren.

Weil Giacosa seinem Werk unbedingt noch eine Hecktür spendieren wollte, kam es aber zu Produktionsverzögerungen, der 600 Multipla wurde erst 1956 eingeführt – mit den vier seitlichen Türen, über die auch der normale 600er verfügte (vorne übrigens hinten angeschlagen, was einer Genehmigung der Regierung bedurfte – 1966 war mit dieser Ausnahme aber endgültig Schluss, was dann auch das Ende des Multipla bedeutete). (Dazu schreibt nun Markus Winninghof, bei dem wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken wollen: Das kann eigentlich nicht stimmen. Der Fiat 500 Kombi (Giardiniera) wurde in Italien bis 1976 mit Selbstmördertüren gebaut und auch verkauft. In Deutschland wurden die Selbstmördertüren 1963 verboten. Den normalen 600er hatte Fiat da bereits umgestellt, der Fiat 500 D wurde 1965 vom F abgelöst. Die «D’s» wurden 1964 und 1965 in Deutschland mit Ausnahmegenehmigungen zugelassen. Der Kombi wurde in Deutschland gar nicht mehr verkauft, im Gegensatz dazu aber in anderen europäischen Ländern, wie z. B. Frankreich, Belgien, Niederlande usw..)

Die Lenksäule muss ein einige abenteuerliche Verrenkungen machen auf dem Weg zwischen Lenkrad und Lenkgetriebe. Und überhaupt ist sie ziemlich im Weg, sie trennt nämlich auch noch die Pedale. Und weil die Sitzposition in der ersten Reihe derart ungewöhnlich ist, entschloss man sich, diesem Gestühl keinen Längsverstell-Mechanismus zu spendieren. Was wiederum zur Folge, dass Mitteleuropäer ein Problem mit der Kopffreiheit haben (oder versuchen, wie Markus es beschreibt, ihre Beine geschickt zwischen Lenksäule und Armaturenbrett zu falten). Auch das Fahrgefühl ist ziemlich speziell: unmittelbar vor den Knien des Fahrers ist der 600 Multipla fertig. Das führte wohl ganz automatisch zu einer defensiven Fahrweise, denn die Crash-Tauglichkeit des gerade einmal 3,53 Meter langen Wagens war über keinen einzigen Zweifel erhaben.

Es gab den 600 Multipla, der anfangs von einem 633 Kubik grossen, 21 PS starken Vierzylinder angetrieben wurde, in drei verschiedenen Konfigurationen. Zuerst einmal als Taxi, mit einer festen zweiten Sitzreihe – und statt Beifahrersitz einer Kofferablage. Dann als Vier/Fünf-Plätzer mit einer zweiten Sitzreihe und reichlich Gepäckraum dahinter; sowohl die erste wie auch die zweite Sitzreihe liessen sich aber abklappen, so dass eine Art Bett entstand. Und dann gab es noch den 6-Plätzer mit einer dritten Sitzreihe. Die hinteren vier Einzelsitze liessen sich in den Wagenboden versenken. War dieser Wagen aber voll besetzt, dann war nicht mehr viel los – schon mit nur einem Passagier kam der Multipla knapp auf 90 km/h. 1960 gab es da eine sanfte Verbesserung, der Motor wurde auf 767 Kubik aufgebohrt, war dann 29 PS stark, die Höchstgeschwindigkeit stieg auf etwa 105 km/h.

Fast 2,7 Millionen Exemplare des 600er wurden zwischen 1955 und 1969 allein aus italienischer Produktion verkauft (in Argentinien wurde der Wagen bis 1982 hergestellt…). Vom 600 Multipla konnten hingegen nur knapp 150’000 Stück abgesetzt werden. Was durchaus auch an der Optik gelegen haben könnte. «Es ginge wohl zu weit, wenn man behaupten wollte, dass die hier gefundene Form kennzeichnend wäre für den Personenwagen der Zukunft», schrieb Werner Oswald im deutschen Fachmagazin «auto, motor und sport», «die Fiat-Form könnte aber ohne weiteres Vorbild für eine gefälligere Gestaltung des als Kombi verwendbaren Personenwagens sein.» 20 Jahre später sah sich Matra den Multipla nochmals genau an – und konstruierte dann den legendären Renault Espace.

Jetzt, aber – die eigenen Eindrücke.

Zuerst hat es mich fast umgehauen. Wahrhaftig. Die Fahrertür, nach vorne öffnend, gibt eine nur kleine Öffnung frei – und dann gibt es da eine Stufe, über die man bestens stolpern kann, wenn man nicht hinschaut. Man muss sich in den Wagen einfädeln, fast ein wenig wie bei einem bösen Sportwagen. Bloss, dass bei einem solchen nicht auch noch die Lenkstange im Weg steht. Hat man dann Beine und Füsse sortiert, dann erschrickt man ein wenig. Die Frontscheibe ist nah, vor der Frontscheibe ist ja dann nichts mehr, kein Motorraum als Aufprallschutz. Dann schaut man auf die Füsse – und weiss: ein selbstverschuldeter Auffahrunfall wäre sicher nicht wirklich optimal. Nur schon ein Reh, allenfalls ein Hase oder auch ein Geier von vorne: besser nicht. Was einem aber nicht passieren kann: eine Ablenkung durch ein zu komplziertes Bediensystem. Es gibt einen Tacho mit Benzin- und Wassertemperatur-Anzeige, das Zündschloss befindet sich mittig – und das war es dann schon.

Das Vierzylinderchen mit 767 cm3 Hubraum (unser «Testwagen» stammt aus dem Jahr 1967, hatte also schon manchen «update» hinter sich), springt mit der typischen Vibration an, schüttelt sich ein wenig – und harrt dann fröhlich der Dinge. Nicht mittig, erstaunlicherweise. Ein wunderbares Detail: In der vorderen Sitzbank wurde Platz ausgespart, damit der Schalthebel genug Raum findet. Ewig lang ist er – und doch lässt sich das Viergang-Getriebe bestens schalten. Wild ist der Vortrieb nicht, aber das geht anständig, ausreichend, man will eh nicht zu flott, weil: siehe oben. Es ist klassisches, vorausschauendes Fahren, das hier gepflegt werden darf, man beobachtet den Verkehr gut, weiss deshalb auch, wann man schon beschleunigen kann (was etwas dauert) und wann man besser abwartet. Zwar hat man davon gehört, dass die Turiner Taxifahrer ihre Multipla wild getrieben haben sollen, doch irgendwie möchte man das nicht ausprobieren, die Schräglagen werden bald einmal beängstigend, das Verhältnis von der Höhe (1,58 Meter) zur Breite der Spur ist auch nicht extrem vertrauenserweckend. Egal, man tuckert gern ein bisschen einher, 110 km/h schafft er locker, auch über längere Strecken. Abarth, so geht die Sage, soll Multipla auf bis zu 150 km/h gebracht haben.

Worüber man heute nur staunen kann: das Platzangebot. Der Berichterstatter, 1,90 Meter gross und gut ein Siebtel so schwer wie der ganze Wagen, findet vorne genügend Raum – und es kann in der ersten Reihe problemlos sonst noch jemand Platz nehmen. Hinten gibt es dann vier Einzelsitzchen, die sind jetzt mehr so für die vier Zwerge, aber irgendwie geht sich das schon aus, die Beine irgendwie. Und ganz hinten, auf der Ablage über dem Motörchen, noch die Sporttaschen. Einen eigentlichen Kofferraum gibt es nicht. Ein aktueller Fiat 500, nun wahrlich auch kein Riese, ist ziemlich genau gleich lang wie der 600 Multipla, gut 20 Zentimeter breiter und 10 Zentimeter weniger hoch, doch er bietet nicht den Hauch des Platzangebots. Fortschritt, anyone? Ok, in Sachen Sicherheit sicher – aber sonst?

Ein paar Fahrzeuge wollen wir noch zeigen, zuerst einen, den Garage 11 anzubieten hatte. Dazu steht: «600 D Multipla im topzustand, italien import 2011, ungeschweißte karosse, h-zulassung, diese multipla befindet sich im originalzustand und wurde lediglich einmal neu lackiert vor ca. 10 jahren, kein wartungs- oder reparaturstau, seit import bestandteil einer seriösen sammlung». Verlangt werden 39’900 Euro – das erscheint fair, auf Auktionen wurde auch schon das Doppelte bezahlt…

Am 8. Februar 2017 kam bei RM Sotheby’s dieses Modell auf der Auktion in Paris unter den Hammer. Und das erst noch als «no reserve». Erzielt wurden 35’840 Euro.

Mehr Fiat haben wir in unserem Archiv.

3 Kommentare

  1. Stefan Langewellpott Stefan Langewellpott

    ganz nett geschrieben, aber leider voller grundlegender Fehler.
    „Es entstand so ein Frontlenker, der später Vorbild für alle so genannten MPV/Minivans werden sollte.“: MPVs und Minivans haben wie der im Beitrag erwähnte Renault Espace einen Frontmotor und basieren üblicherweise auf einem Kompaktfahrzeug, dann aber mit aufrechter(er) Sitzposition.
    Das gepriesene Layout (in Fachkreisen auch Package genannt) hat der ebenfalls erwähnte VW Bulli vorweggenommen – allerdings mit Heckklappe über dem Heckmotor, was den Nutzwert deutlich erhöhte.
    Fiat machte diesen Schritt erst mit dem 850T von 1964, der der eigentliche Nachfolger des Multipla ist, diesmal mit „richtigem“ Package.
    Der Ur-Multipla musste vermutlich aus Kostengründen auf die Gleichteile des 600 im Heckbereich zurückgreifen.
    So gesehen ist der Multipla also eine inkonsequent ausgelegte Zwittervariante. Was keine Aussage über seinen unbestrittenen Charme bedeuten soll!
    „…wurde erst 1956 eingeführt – mit den vier seitlichen Türen, über die auch der normale 600er verfügte“ – leider auch falsch, der normale 600er hatte nur 2 Türen. Erst später gab es eine viertürige Version des spanischen Lizenzbaus SEAT 770.
    Vertiefte Informationen zum Thema Package und Fahrzeuglayout liefert übrigens das auch für Laien sehr lesenswerte Buch „The H-Point“.
    So, genug geschlaubergert. Gruss Stefan

    • Peter Ruch Peter Ruch

      «trotzdem» danke 😉 – wir lernen gerne dazu…

  2. Pascal JUNG-LEDOUX Pascal JUNG-LEDOUX

    Super.

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