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Fahrbericht Polestar 2

Fantastic Negrito oder: Overengineered

Man ist dann doch erstaunt, wie konventionell der Polestar 2 ist. Das Design wird niemanden abschrecken, ein klassisches viertüriges Coupé, dem man seine Verwandtschaft zur gut eingeführten Formensprache von Volvo mehr als nur ansieht. Es gibt eine lange Motorhaube vorne (unter der sich ein erstaunliches kleines Fach für, hey, die Stromkabel befindet) und einen anständigen Kofferraum hinten (408 l, 1095 l bei abgeklappten Rücksitzen), die CMA-Plattform teilt der Polestar 2 etwa mit dem XC40. Ganz hübsch, aber «habenwollen» sieht sicher anders aus. Innen gibt es (weil CMA-Platttform) sogar einen doch ziemlich mächtigen Mitteltunnel, da existieren auch E-Fahrzeuge mit einer deutlich besseren Raumausnützung (wir wollen hier das T-Wort nicht verwenden). Die 78-kWh-Batterie, die in 27 Module aufgeteilt ist, befindet sich im Wagenboden, das hält immerhin den Schwerpunkt tief. Apropos schwer: Über 2.1 Tonnen wiegt das 4.61 Meter lange, 1.99 Meter breite und 1.48 Meter hohe Fahrzeug.

Die First Edition, die in der Schweiz ab 57’900 Franken zu haben sein wird (ein klarer Kampfpreis gegen die Marke mit dem T-Wort; Geld verdienen lässt sich damit wohl eher nicht), verfügt über ein veganes Interieur. Doch da geht es nicht bloss um den Zeitgeist, Polestar gibt sich bei der Produktion wirklich alle nur erdenkliche Mühe, nachhaltig zu bleiben. Es sind viele Details, die zu einer verbesserten Umweltfreundlichkeit führen, man verwendet deutlich weniger chemische Weichmacher, das Holz wird schonend und sparsam verarbeitet, damit keine unnötigen Reste entstehen. Irgendwann, wenn es dann möglich sein wird, will man die Zulieferer bis in die 3. Klasse (also Zulieferer der Zulieferer der Zulieferer) zurückverfolgen und zertifizieren, das sind dann wohl die Kinder im Kongo. Aber es gibt schon einmal keine Show-Rooms und keine Händler, da ist man ja dann alleweil total super umweltfreundlich.

Die Insassen bekommen davon nichts mit, der Polestar 2 ist innen so behaglich und edel und schön verarbeitet, wie man das von schwedischen Automobilen gewohnt ist (und für diesen Preis auch erwarten darf). Das Interieur wird dominiert von einem riesigen Bildschirm, über den fast alle Funktionen ausgeführt werden. Gleichzeitig wird die Sprachsteuerung auf eine neues Niveau gehoben, der in China gebaute Schwede versteht nicht nur Befehle, er quittiert sie auch noch, auf Wunsch werden auch (flache) Witze erzählt. Das wird vielleicht etwas Gewöhnung erfordern, eröffnet dem Spiel- und Vernetzungstrieb des Menschen aber auch ganz neue Möglichkeiten. Das restliche Bediensystem ist identisch mit jenem von Volvo. Es gibt aber schon noch ein paar sehr nette Details, keinen Startknopf zum Beispiel, der Schlüsselträger setzt sich rein, Fuss auf die Bremse, auf D schalten – und lautlos geht es los. One-Pedal-Driving wählt man nicht, das ist fest einprogrammiert. Und bremst für unsere Begriffe viel zu stark, wir haben uns fast den Kopf angehauen an der Frontscheibe an der ersten Kreuzung. Andere Hersteller lassen da dem Piloten Wahlmöglichkeiten, es ist aber auch möglich, dass es dies beim Polestar auch gibt, wir dies aber nicht gefunden haben in den diversen Untermenus.

Es geht mächtig los: Die Systemleistung liegt bei 408 PS, das maximale Drehmoment bei 660 Nm. Damit will der Polestar 2 in 4.7 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h beschleunigen – und dem Allradler (je ein synchroner Elektromotor an der Vorder- und Hinterachse) ist dieser Wert auch zuzutrauen, die Längsdynamik ist tatsächlich beeindruckend. Das ist sie aber bei anderen E-Automobilen auch, da schafft der Schwede nur unter den Schweden ein Alleinstellungsmerkmal; wohl deshalb darf er auch max. 200 km/h rennen, alles andere von Volvo wird ja jetzt bekanntlich auf 180 km/h eingebremst. Im Performance-Pack der First Edition ist aber auch ein adaptives Fahrwerk mit manuell einstellbaren (! – of course, baby, mach ich jeden Tag, je nach Stimmung) Öhlins-Dämpfern und Brembo-Bremsen inbegriffen, das ein sportlicheres Fahrverhalten ermöglichen soll. Bei den ersten Probefahrten auf Schweizer Strassen verspürten wir eine gewisse deutsche Härte, doch die wird ja von den hiesigen Premium­-Kunden anscheinend geschätzt. Die Lenkung ist einigermassen leichtgängig, vermittelt aber einen besseren Kontakt zur Strasse als die anderer E-Fahrzeuge. Ja, man kann sich vorstellen, dass dieses Fahrzeug durchaus Fahrspass vermitteln kann – so gut das halt mit einem E-Auto möglich ist (Gewicht x kein Sound x ganz viele elektronische Fahrhilfen = äh). Ob der Pole­star 2 tatsächlich mit 19.3 kWh Strom auf 100 Kilometern auskommt und ob die vom Werk genannte Reichweite von 470 Kilometern realistisch ist, das wissen wir nicht, nehmen aber an, dass; nein. Laden lässt sich der Schwede auf alle nur erdenklichen Arten, maximal sind 150 kW möglich.

Das ist alles gut, das ist alles nett. Aber es berührt (uns) nicht im Geringsten. Ja, auch dieses E-Auto fährt, logisch, es fährt auch nett und leise und geradeaus ganz flott und alles, aber in der Summe seiner Eigenschaften besticht es mehr als überdimensionales Smartphone, sprich: es kann digital alles, was das iPhone SE (erste Generation oder, sorry, irgendein ebenfalls bereits veraltetes Android-Dings, aber da kennen wir uns nicht so aus) auch kann. Unsereins hat das Handy auch im Auto dabei, wir haben für das Koppeln noch keinen anderen Grund gefunden als Spotify, weil der Wagen als Resonanzraum halt besser ist als das kleine Telefon (derzeitiger Favorit übrigens: Fantastic Negrito). Wir verstehen das «overengineering» in diesem Bereich beim besten Willen nicht. Wir verstehen noch ganz vieles anderes nicht: was ganz genau ist denn nun die Berechtigung für die neue Marke Polestar, wenn es ja auch rein elektrische Volvo gibt (sogar auf der gleichen Plattform) – und Lynx & Co. dann bald auch noch? Wieso sieht der Polestar aus wie ein Volvo (wir können uns an eine Ingenlath-Volvo-Design-Studie erinnern…), fühlt sich an wie ein Volvo, fährt sich wie ein Volvo, kostet wie ein Volvo? Ist das alles: Polvo (das darf man googeln)?

Zu einem späteren Zeitpunkt kommen dann auch noch weitere, auch günstigere Varianten des Polestar 2. Mehr Polestar haben wir nicht, aber dafür gibt es reichlich Volvo in unserem Archiv.

1 kommentar

  1. Ingo Ingo

    Als petrolhead wurde ich aufgrund von Konzernvorschriften bezüglich CO2 Emissionen bei meinem neuen Firmenwagen sanft auf Elektro verwiesen…
    Hab jetzt seit 2 Monaten einen Polestar 2 long range single engine.
    Da ich mich erst arrangieren musste mit Elektromobilität war ich ganz froh über das relativ konservative Fahrzeuglayout- die hohe und breite Mittelkonsole beispielsweise gibt mir ein bisschen ein sportliches Gefühl hinter der Lenkrad .Auch die klassische Bedienung mit Wählhebel zum Beispiel ist wertig. Insgesamt glaube ich werden sich Umsteiger aus Fahrzeugen wie einem Alfa, Volvo oder Jaguar im Polestar wohlfühlen. Leicht individuell, relativ hochwertige Materialien etc.
    Pro und Contra:

    Pro:
    Hört sich banal an aber wenn man sich ein Nutzerprofil erstellt lassen sich alle störenden Assistenten dauerhaft abstellen, also kein reingequatsche in meinen Fahrstil, keinen Kampf gegen den Spurhalteassistent.
    Fahrwerk ist straff aber Langstreckentauglich
    Contra:
    Habe bewusst die Version mit der längsten theoretischen Reichweite gewählt….theoretisch!
    Von den über 600km bleiben in der Praxis 300-350 übrig. Ich fahre aber auch viel Langstrecken auf Autobahnen und alles über 100 km/h frisst wirklich Akku

    Hoffentlich wird das bei etwas wärmeren Temperaturen besser….

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