In die falsche Richtung
Die Auszeichnung «Car of the Year» feiert heuer ihr 60-jähriges Bestehen. Der Preis dürfte weiterhin der wichtigste sein in der Automobil-Industrie, so etwas wie der «Oscar» – und ich war immer stolz darauf, dass ich seit 15 Jahren Mitglied der Jury sein durfte. Und habe meinen Job auch immer sehr ernst genommen, lange Listen geschrieben, mich noch einmal vertieft mit einem Kandidaten beschäftigt, wenn ich unsicher war; mit manchen der Fahrzeuge bin ich Tausende von Kilometern gefahren. Denn «Car of the Year» ist für potenzielle Auto-Käuferinnen tatsächlich eine mögliche oder sogar wichtige Entscheidungsgrundlage, immerhin hat ja eine nicht unwesentliche Gruppe von Fach-Journalisten eine eindeutige Wahl getroffen (auch wenn diese nicht immer glücklich war).
«Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist , muss alles sich ändern», schrieb Giuseppe Tomasi di Lampedusa in seinem berühmten Roman «Il Gattopardo». Nun, die Organisation von «Car of the Year» hat aber genau diese Veränderungen in den vergangenen 10 Jahren komplett verpasst. Eine Gruppe von mehrheitlich alten, weissen Männern fliegt um die halbe Welt, um in einem feinen Hotel bestens bewirtet zu werden und noch ein paar Kilometer mit einem neuen Automobil zu fahren. Das war eine kleine Ewigkeit das Geschäftsmodell, ich darf das auch nicht wirklich in Frage stellen, ich habe das selber mehr als drei Jahrzehnte mitgemacht. Aber eben, die Zeiten ändern sich, nicht erst seit Corona, nicht nur, weil Greta zu einer wichtigen Stimme geworden ist. Es erscheint mir schon seit einigen Jahren nicht mehr passend, für die statische Vorstellung eines Elektro-Autos nach Amerika zu fliegen, um danach bei ersten Testfahrten in Namibia dabeizusein, um dann auch noch die offizielle Präsentation in Dubai mitzunehmen. Das ist Blödsinn, das muss aufhören. Eine Gruppe von fast 60 nicht unwichtigen Journalisten aus ganz Europa, die praktisch alle relevanten Auto-Publikationen vertreten, hätte es durchaus in der Hand gehabt, darauf Einfluss zu nehmen. Ja, ich habe das auch zu wenig intensiv gefordert; ich habe das aber jetzt für mich selber entschieden.
Die diesjährige Wahl zum «Auto des Jahres» (siehe: hier) war, freundlich ausgedrückt, eine Katastrophe – und zeigt gut auf, dass die Strukturen und vor allem Regeln von COTY nicht mehr zeitgemäss sind. Die Elektrifizierung des Auto-Marktes hat die Spielregeln innert kürzester Zeit komplett verändert. Es gibt immer weniger echte Neuheiten, eine einzige E-Plattform wird von grossen Konzernen durchgehend verwendet – der VW ID.Buzz, zum Beispiel, ist genau das gleiche Fahrzeug wie der VW ID.3, der 2021 abgeschlagen Vierter wurde, der ebenfalls baugleiche Skoda Enyaq schaffte es im vergangenen Jahr nur auf den drittletzten Platz. Der Nissan Ariya ist auch ein Renault Megane, der Gewinner Jeep Avenger ein Peugeot 208 (2020…) und ein Opel Corsa und noch mehr. Die einzige echte Neuheit, Toyota bZ4X/Subaru Solterra, wurde Letzter – wohl deshalb, weil ein norwegischer Juror am Tag vor der Abstimmung einen doch sehr fragwürdigen Artikel zum Ladeverhalten des Toyota veröffentlicht hatte. Das ist dann wieder ein anderes Problem: Kompetenz in Sachen E-Mobilität ist innerhalb der COTY-Jury eher schwach vertreten.
Vor etwa zehn Jahren hatte ich innerhalb der Organisation den ersten Versuch unternommen, «Car of the Year» auf den sozialen Medien und mit einer professionellen Website besser etablieren zu wollen. Das ist leider bis heute nie in einem vernünftigen Mass passiert – und hat seit einigen Jahren zur Folge, dass die Auszeichnung immer mehr an Wichtigkeit und vor allem Aufmerksamkeit verliert. So sehr, dass gewisse Hersteller sich weigern, den Jurorinnen noch Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen, zum Beispiel Mercedes-Benz (gut, da gibt es noch andere Probleme). Solche Probleme wurden nie öffentlich gemacht, man versuchte es immer auf die freundliche Tour – mit dem Resultat, dass noch so mancher Konzern die Wahl nicht mehr ernst nimmt. Gleichzeitig wurde es verpasst, die neuen Player, etwa die chinesischen Hersteller, früh- oder zumindest rechtzeitig einzubinden. Das ist nicht bloss schade, sondern eine Tragödie: Politik hat in einem solchen Gremium nichts zu suchen, es muss einzig und allein um die Produkte gehen. Und da kommen gerade aus China derzeit spannende Sachen. Die aber von den veralteten COTY-Regeln ausgesperrt werden.
Es soll nun innerhalb der Organisation von «Car o the Year» Veränderungen geben. Wie diese genau aussehen sollen, entzieht sich meiner Kenntnis. Doch das tut hier einerseits nichts zur Sache, das sind Interna, widerspricht aber andererseits komplett meinem Verständnis von demokratisch gefällten Entscheidungen. Ich habe deshalb per sofort meinen Rücktritt eingereicht.
Noch etwas in eigener Sache: Dieser Text ist nicht maschinell erstellt worden. Mehr selbst geschriebene Stories hat es im Archiv.
Eine sehr, sehr gute Entscheidung!
Lieber Herr Ruch,
sachlich verstehe ich Ihren Rücktritt voll und ganz. Aber Rücktritt bedeutet auch immer ein wenig Resignation, und damit sind Veränderungen schwierig, denn wer sich zurückzieht, kann am Veränderungsprozess nicht mehr teilnehmen. Andererseits beginnt ein Umdenken eventuell dann, wenn mehrere Personen hinwerfen. Ich bin gespannt, wie sich das Thema weiterentwickelt.
Liebe Grüße
Werter, auch englisch heisst Rücktritt ja resignation, und ja, eine solche herrscht schon auch. Es ist frustrierend, wenn man über Jahre an die Wand redet. Doch ich habe schon auch das Gefühl, dass sich die Branche ändern wird – und will «radical» so auch ermöglichen, in Zukunft noch vermehrt eigene Stories zu produzieren, weniger den Neuheiten hinterherzuhecheln. Schaumermal )
Grüß Gott,
„Car of the year“ hat mich nie interessiert, aber Ihre Einstellung und manchmal pointierte Schreibweise, die Themen der „radical- Seite“ finde ich ausgezeichnet.
Um nochmals Bezug auf den Artikel zu nehmen, evtl. sollten sich die Leute von „COTY“ mal Ihre Hp ansehen….
In diesem Sinn schöne Grüße aus Wien
liebe Grüsse ins geschätzte Wien )