Kunststoffdesaster
Es ist so ein wenig wie beim Huhn und dem Ei. Ob nun der damalige Volvo-Chef Assar Gabrielsson in die USA reiste, um sich ganz allgemein inspirieren zu lassen, oder ob er den klaren Plan hatte, sich die gerade frisch vorgestellte Corvette genauer anzuschauen, weiss man heute nicht mehr. Wie auch immer, Gabrielsson kehrte zurück nach Schweden und hatte eine Vision: Volvo brauchte einen Sportwagen. Mit Kunststoff-Karosse. Die Beziehungen zu Glasspar, jenem Unternehmen, das auch General Motors schon beim Bau der Corvette mitgeholfen hatte, brachte der Volvo-Chef auch gleich noch mit.
Es ging schnell. Es ging zu schnell. Gabrielsson hatte Bill Tritt von Glasspar gleich noch den Auftrag gegeben, eine Karosse zu zeichnen – und auch gleich mal zu bauen. Schon im Frühling 1954 traf die erste Glasspar-Arbeit in Schweden ein, gleichzeitig hatte man ein neues Chassis entwickelt; die Technik wollte man aus dem PV444 übernehmen. Es war ein hübscher Zweisitzer – so ganz anders als alles, was vorher aus Schweden kam, sportlich, elegant.
Die «Automobil Revue» beschrieb die technischen Feinheiten unmittelbar nach der ersten Präsentation am 2. Juni 1954 so: «Für den neuen Sportwagen wurden Motor, Kupplung, Getriebe, Hinterachse, Vorderachse und Lenkung vom normalen Serienwagen übernommen und soweit notwendig modifiziert. Da der zweitürige Sedan PV444 in selbsttragender Bauweise ausgeführt ist, wurde für den offenen Sportzweisitzer ein eigenes Fahrgestell konstruiert. Bedeutet es einerseits – besonders aus Preisgründen – einen Nachteil, nicht auch hier auf Serienbauteile zurückgreifen zu können, so hatten die Konstrukteure anderseits bei der Gestaltung des Chassis freie Hand und waren nicht durch das Vorhandensein von Werkzeugen gebunden.
Dementsprechend bauten sie einen leichten Rahmen und reduzierten den Radstand des Serienwagens um 20 auf 240 cm, was lediglich eine Verkürzung der Serienkardanwelle um diesen Betrag zur Folge hatte. Als Basis für das Fahrwerk dient ein sehr tief gebauter Rohrrahmen, der zwischen den Vorder- und Hinterrädern stark nach aussen gekröpft ist. Die Längsträger bestehen aus einem oberen und einem unteren Rohr von rund 5 cm Durchmesser, die von einem Stahlblech ummantelt sind und damit ein Trägerelement von hoher Biegefestigkeit ergeben. Aus Gründen der Gewichtsersparnis ist der Steg zwischen den beiden Rohren gelocht. Fünf Quertraversen und eine leichte Kreuztraverse, die alle ebenfalls aus Rohren bestehen, geben dem Fahrgestell die nötige Steifigkeit.
Die Hinterachse wurde unverändert vom normalen Personenwagenmodell Volvo PV 444 übernommen. Es handelt sich hierbei um eine Starrachse, welche durch zwei nach vorne stark konvergierende Längsschublenker geführt wird. Zur Seitenstabilisierung dient ein Panhard-Stab. Die Abstützung der Räder erfolgt durch Schraubenfedern und Teleskopstossdämpfer. Die Vorderradaufhängung besteht in konventioneller Art aus übereinander liegenden ungleich langen Dreieckquerlenkern.
Als Antriebsmotor für den neuen Sportwagen wurde der Motor des Normalmodelles mit hängenden Ventilen und seitlicher Nockenwelle übernommen, jedoch seinem sportlichen Bestimmungszweck angepasst und auf eine wesentlich höhere Leistung gebracht. Ausser einer Erhöhung der Kompression von 6,5 : 1 auf 7,8 :1 wurden die Einlassventile vergrössert und die Ventilöffnung durch die Verwendung von steileren Nocken beschleunigt. Dank der stärkeren Ventilfedern lassen sich höhere Drehzahlen ohne Ventilflattern erreichen. An Stelle eines einzigen Fallstromvergasers treten zwei SU-Vergaser.
Während der Motor des Volvo-Personenwagens seine Höchstleistung von 44 PS bei 4000 U/min abgibt, soll die sehr stark poussierte Sportmaschine 70 PS bei 6000 U/min, abgeben. Die spezifische Leistung beträgt damit fast 50 PS/Liter und macht der Bezeichnung «Sportmotor» alle Ehre. Obwohl das beste Drehmoment bei der recht hoch liegenden Drehzahl von 3500 U/min liegt und der Wagen eine Höchstgeschwindigkeit von 155 km/h erreichen soll, hat man sich mit nur drei Gängen begnügt, d.h. man hat das Getriebe des Serienwagens unverändert übernommen. Die in den einzelnen Gängen erreichbaren Geschwindigkeiten sind beachtlich hoch; bei einer Motordrehzahl von 6000 U/min läuft der Wagen im zweiten Gang mit 95 km/h.» (Ach ja, damals war die «Automobil Revue» noch die wahre Quelle des automobilen Wissen. Wir bedanken uns bei www.zwischengas.com für die Aufarbeitung dieser Informationen.)
Wie geschrieben: es ging zu schnell. Als am 2. Juni gleich drei Exemplare auf dem Flughafen von Göteburg der staunenden Öffentlichkeit vorgestellt wurden, hatten diese Fahrzeuge noch keinen Testkilometer hinter sich. Aber natürlich waren sie eine Sensation: ein Sportwagen aus Schweden. Mit einer Kunststoff-Karosse, der ersten überhaupt bei einem europäischen Fahrzeug. Und nicht explorierenden Reifen. Volvo sagte zudem, dass man die Kunststoffteile bald schon in einer eigenen Fabrik produzieren werde. Aber erst nach dieser Vorstellung begannen die Testfahrten – und man merkte schnell, dass es noch viel Arbeit brauchte. Sehr viel. Am Kunststoff wurde gewerkelt, am Chassis auch, es gab ein Dach, trotz der Trelleborg Safe-T-Reifen, den ersten schlauchfreien Exemplare in Europa, gab man dem Sport-Modell ein Ersatzrad mit. Bloss das Dreigang-Getriebe ersetzte man nicht mit dem versprochenen ZF-Fünfgänger, den man im Prospekt noch versprochen hatte. Auch 1955 bastelte man weiter, erst 1956 konnten die ersten Exemplare ausgeliefert werden, knapp 800 Kilo schwer und 170 km/h schnell (es waren dann aber 969 Kilo und nur gerade 150 km/h, da draussen, im richtigen Leben).
Eine Jahresproduktion von anfangs mindestens 200 Stück war geplant, insgesamt 3000 P1900 wollte man bauen, denn das Interesse war gross; im ersten Jahr wurden es aber nur 44 Exemplare, denn kaufen wollte den Volvo eigentlich niemand. Was sicher auch daran lag, dass er sehr teuer war, mit einem Preis von rund 20’000 Kronen war er doppelt so teuer wie ein PV444. Eines wahrscheinlich schönen Freitags im Mai 1957 lieh sich der neue Volvo-Chef Gunnar Engellau den Wagen mit der Produktionsnummer 49 für ein Wochenende aus. Es muss ein ziemlich übler Ausflug gewesen sein, 700 Kilometer, denn als Engellau am Montag in die Fabrik zurückkehrte, beklagte er sich über so ziemlich alles, den zu wenig steifen Rahmen, die undichte Karosse, die miserable Verarbeitung. Und er verfügte sogleich den Produktionsstop.
Und so kam der Volvo P1900, in den USA als Volvo Sport angeboten, auf nur 67 Exemplare. Also: es waren 68, denn eine Chassisnummer wurde doppelt vergeben. Auch nicht gerade das, was man sich von den seriösen Schweden gewohnt ist. Schön ist aber, dass wohl noch etwa 50 dieser Fahrzeuge existieren.
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