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Citroën Ami 6

Das Fräulein-Wunder

Man darf sich daran erinnern, wie die DS einst zu ihrem Namen kam. Da stand kein Marketing-Genie dahinter, sondern Väterchen Zufall: Flaminio Bertoni, der geniale Designer der DS, hatte nämlich die Angewohnheit, seine Entwürfe durchzubuchstabieren. Als er am Nachfolger des Traction Avant arbeitete, begann er mit DA, es ging weiter mit DB, DC – und den Rest der Geschichte kann man sich selber ausrechnen. Allerdings, man muss es ja auch noch merken. Ganz ähnlich kam die Ami 6 zu seinem Namen. Das Projekt begann als «M», für «milieu de gamme», und weil der Wagen auf dem 2CV basierte, intern «A» genannt, wurde daraus bald «AM». Und von da war es dann nicht mehr weit zu «ami», Freund auf französisch, an sich schon keine schlechte Bezeichnung. Aber die Franzosen mögen bekanntlich den einfachen Weg nicht besonders. Ausserdem musste die «6» noch eingebaut werden, und darum wurde dann in Frankreich aus dem Freund eine Madame, «la missis».

Citroën hatte nach der Einführung des 2CV (1948) und der DS (1955) ein Problem: Der 2CV war eindeutig am unteren Ende der automobilen Träume angesiedelt, auch preislich, der Inbegriff für eine neue, spartanische und auch ein wenig primitive Mobilität. Die DS dagegen war teuer, sehr teuer für damalige Begriffe, und das ja auch zu Recht, denn wie hatte der Schriftsteller Alexander Spoerl so schön über die Göttin geschrieben: «Dies ist nicht das Auto von morgen. Es ist von heute. Die anderen sind von gestern.» Die Franzosen brauchten also unbedingt etwas zwischen Ente und der Göttin, im Preis noch vernünftig, aber mit mehr Luxus und Komfort als der 2CV. Pierre Bercot, der damalige Generaldirektor und spätere Vorstandsvorsitzende von Automobiles Citroën, diktierte Mitte der 50er-Jahre ein Pflichtenheft.

Eben, mehr Luxus, mehr Komfort als im 2CV, eine maximale Länge von vier Metern, keine fünfte Tür (wie sie der fast gleichzeitig mit dem Ami6 auf den Markt kommende Renault 4 dann haben sollte), denn Bercot hatte etwas gegen Kastenwagen, «utilitaires». Man sollte in seinem neuen Citroën seinen wohlverdienten Wohlstand ein wenig zur Schau stellen können. Bald brodelt auch die Gerüchteküche. Anscheinend gibt es ein Leck in der Entwicklungsabteilung von Citroën. Schon 1952 hatte «L’Auto Journal» erste Zeichnungen der erst drei Jahre später präsentierten DS zeigen können, und Ähnliches geschah 1959 wieder. René Bellu, dieser hervorragende Illustrator, zeichnete für «L’Auto Journal» zwei Ansichten eines Fahrzeuges, das er 3CV nannte – und das dem späteren Produkt erstaunlich ähnlich sah. Citroën erstattete Anzeige. Die Redaktion des Magazins wurde durchsucht, doch keine Beweise für Industriespionage konnten gefunden werden. Es gab aber auch Gerüchte, dass es sich bei dieser Geschichte auch um eine Marketingaktion von Citroën gehandelt haben könnte. Es mussten in jener Zeit doch unbedingt die potenziellen Kunden an der Stange gehalten werden, denn die Konkurrenz von Renault und Peugeot und auch Simca hatte bereits solche Modelle der unteren Mittelklasse auf dem Markt.

Flaminio Bertoni, Schöpfer des Traction Avant, des HY, des 2CV und der DS, mehr Bildhauer als Autodesigner, Erfinder des 3D-Volumen-Modells, einer von allen Seiten betrachtbaren und auch begreifbaren Miniaturversion seiner Entwürfe, hatte ein Problem. Nicht mehr als vier Meter, hatte Bercot befohlen, keine fünfte Tür und trotzdem ein anständiger Kofferraum. Das liess sich – damals – eigentlich nur mit einem Trick bewerkstelligen, «la ligne en Z», die inverse Heckscheibe. Kontrovers ist dieses wichtigste Designmerkmal des Ami 6 diskutiert worden – dabei ist es weder neu oder etwa revolutionär. Schon 1953 hatte Packard den Balboa gezeigt, bei dem die Heckscheibe selber zwar noch klassisch nach hinten zeigte, aber bei dem die C-Säule (eine B-Säule hatte er allerdings nicht) ebenfalls als «Z» ausgelegt war. Doch so richtig invers war dann erst der Ford Anglia ab 1959. Damals stand das Design des Ami 6 aber schon fest. Man war aber bei Citroën selber nicht so komplett überzeugt, ob sich dieses aussergewöhnliche Design denn auch wirklich verkaufen lassen würde. Im amerikanischen Prospekt – ja, Citroën hatte auch in den USA mal Ambitionen, einst – wurde eine hübsche Dame bei der Seitenaufnahme so postiert, dass sie genau vor «la ligne en Z» stand. Es brachte nichts – der Ami 6 wurde in den Vereinigten Staaten so gut wie gar nicht verkauft.

Die ersten Versuchsfahrzeuge des Ami 6 sollen noch auf einer abgespeckten Plattform der DS gestanden haben. Doch die Hydropneumatik hätte das Modell auf einen Verkaufspreis gebracht, den Bercot für unverantwortlich hielt. Also entschloss man sich schon früh, den 2CV als Basis zu verwenden. Keine so schlechte Entscheidung, denn das Fahrwerk und die Technik der Ente liess sich durchaus auf ein grösseres Fahrzeug adaptieren. Und so geschah es. Weil es doch noch so einiges zu basteln gab: Der neue Citroën kam mit einem Jahr Verspätung – Bercot hatte 1960 befohlen – auf den Markt. Am 24. April 1961 wurden die französischen Journalisten auf den Flughafen Villacoublay südlich von Versailles gebeten. Und weil Citroën ja schon damals eine fortschrittliche Marke war, fanden gleichzeitig gleiche Vorstellungen in Köln, Amsterdam, Brüssel, Mailand und auch Genf statt. Weil aber die Generäle in Algerien putschten und Villacoublay auch ein Militärflughafen ist, musste die französische Veranstaltung fast abgesagt werden. Ob der politischen Turbulenzen blieb manch ein Journalist der Präsentation fern, und auch in den Zeitungen nahmen die Wirren in Algerien so viel Platz ein, dass der neue Citroën sich mit Randspalten begnügen musste. Kein sehr verheissungsvoller Start.

Es waren alles noch Vorserienmodelle, die Citroën damals den Journalisten vorstellte. Diese unterschieden sich teilweise noch ziemlich heftig von den späteren Produktionsmodellen, denn Citroën liess den Ami 6 in einem noch ziemlich unerprobten Zustand auf das Publikum los. Bereits im November 1961 wurden erstmals grössere Verbesserung in die Serie eingebracht, etwa liessen sich jetzt die hinteren Scheiben auch öffnen, und der vorher unsägliche Mechanismus zum Öffnen des Kofferraums wird umgestellt auf einen Druckknopf, Vorher hatte man die rechte hintere Tür öffnen und dort, neben der Lehne des Rücksitzes, an einem Seilzug ziehen müssen. Die wichtigste Veränderung betraf aber die Stärke des Karosserie-Stahls. Während der offiziellen Premiere am Pariser Auto-Salon im Oktober 1961 musste Citroën die unangenehme Erfahrung machen, dass die drei Ausstellungsstücke jeweils am Abend ziemlich verbeult waren. Lehnte man ein wenig gegen die Fahrzeuge – und das machten ganz besonders Mitarbeiter anderer französischer Autohersteller gern und oft -, gab das nur 0,5 mm dicke Blech schnell nach. Was im Scheinwerferlicht besonders gut zu sehen war. Citroën reagierte damit, dass die Fahrzeuge jeweils am Abend vom Stand abtransportiert und am Morgen durch neue Exemplare ersetzt wurden. Doch die Erfahrungen vom Salon hatten auch noch eine andere Auswirkung: Die Blechdicke wurde sofort auf 0,7 mm erhöht.

Auf dem Pariser Salon erhielt der Ami6 dann auch gleich die erste prominente Kundin: Madame Yvonne de Gaulle. Sie hielt noch zur Eröffnung der Messe symbolisch einen Ami 6-Schlüssel in die Hand gedrückt. Ob sie das dazu passende Fahrzeug je einforderte, das ist nicht bekannt. Aber ihr Gemahl, der General, liess sich ja fast ausschliesslich in Citroën fahren (siehe auch Artikel zur DS von De Gaulle). Der Ami 6, 3,92 Meter lang, 1,52 Meter breit, 1,52 Meter hoch, mit einem Radstand von 2,4 Metern, einen Tankinhalt von 25 Litern und einem Gewicht von 670 Kilo, war de Gaulle sicher zu klein, zu wenig standesgemäss auch für die Madame.

Motorisiert war der Ami6 mit dem luftgekühlten Zweizylinder aus dem 2CV. Allerdings wurde der Hubraum von 425 auf 602 ccm erhöht, die Leistung stieg auf 22 PS. Entsprechend dieser extremen Mehrleistung musste selbstverständlich auch die Fliehkraftkupplung massiv verstärkt werden. Innen hingegen sah der Ami6 bedeutend mehr nach Göttin denn nach Ente aus, auch wenn die Revolverschaltung natürlich bleiben musste. Aussergewöhnlich waren auch die rechteckigen Scheinwerfer, die den Citroën nicht nur unverwechselbar machten, sondern dank kleiner Zusatzreflektoren auch eine um 26 Prozent bessere Lichtausbeute im Vergleich zu den runden Scheinwerfern etwa eines 2CV bieten konnten. Die Weltneuheit, entwickelt in Zusammenarbeit mit Cibie, war allerdings auch ziemlich teuer. Originalscheinwerfer sind heute kaum mehr erhältlich, weil als Ersatzteile meist billigere Varianten ohne diese Zusatzreflektoren verwendet wurden.

Übermotorisiert war der Ami 6 nicht. Das englische Magazin «Motor Trend» schaffte 1962 eine Höchstgeschwindigkeit von 105 km/h. Die Beschleunigung von 0 auf 100 km/h wurde nicht gemessen, weil die Tester nicht den ganzen Tag Zeit hatten. Bei 80 km/h ging ihnen die Geduld aus – dafür brauchten sie schon über 30 Sekunden. Aber dafür erscheint der Verbrauch auch für heutige Massstäbe ganz vernünftig: 5,3 Liter waren es auf 100 Kilometern. Aber ein Renault 4, der im gleichen Jahr fast zeitgleich vorgestellt wurde und über einen 750 ccm grossen Vierzylinder verfügte und auf das gleiche Publikum zielte, war auch nicht entscheidend schneller. Der R4 war, erstaunlicherweise für den französischen Staatskonzern Renault, nicht in Paris, sondern in Frankfurt präsentiert worden. Renault hatte definitiv die Hosen voll vor der kreativen Marketingmaschinerie von Citroën, die deutlich besser funktionierte als die eigene.

Aber Citroën fuhr auch grobes Geschütz auf. «Wenn Sie glauben», stand da in einer ersten, 28-seitigen Broschüre zu lesen, «dass die Merkmale eines Wagens – Leistung, Komfort, Sicherheit – unbedingt nach Zahl der Pferdestärken, nach der Menge an sich überflüssigen Chrom-Zierrates oder hohem Zylinderinhalt und entsprechenden fixen Kosten zu messen sind, dann beschäftigen Sie sich nicht weiter mit dem Ami 6!» Im ersten Verkaufsjahr, das allerdings nur vom 1. April bis 31. August 1961 dauerte (ab dem 1. September zählte Citroën die Fahrzeuge jeweils schon zum kommenden Modell-Jahrgang) wurden 19’010 Ami 6 gebaut. Vom Modelljahrgang 1962 waren es dann aber schon 85’358, und 1963 bereits 106’224.

Zum Modellwechsel auf den Jahrgang 1964 schenkte Citroën der «Missis» dann ein grobes Tuning. Die Leistung stieg auf 24,5 DIN-PS, und das wilde Fräulein wurde damit 112 km/h schnell. Vor allem aber verbesserte sich die Durchzugskraft, denn vorher war der Ami 6 dem 60 Kilo leichteren 2CV sogar unterlegen gewesen. Enten-Fahrer machten sich sogar einen Spass daraus, die Ami 6-Piloten am Berg und auf kurvigen Strassen zu ärgern. Und zu überholen. Ein Jahr später kommt es zu einer weiteren Veränderung: Im August 1964 wurde, zusammen mit dem Modell-Jahrgang 1965, auch der Ami 6 Break vorgestellt. Chef Pierre Bercot wollte so ein Fahrzeug auf keinen Fall, denn er fand Kombis grauenhaft (obwohl Citroën ja seit 1958 die DS auch als Break im Angebot hatte). Doch der Ruf der Kundschaft nach einem kleineren Kombi (es gab ja auch noch den riesigen HY) war zu laut, als dass die Franzosen ihn überhören konnten. Und es war auch eine kleine Genugtuung für Flaminio Bertoni: er hatte ein solches Steilheck schon 1956 gezeichnet, er konnte es um etwa 1962 wieder aus den Schubladen holen. Bertoni erlebte die Vorstellung des Break allerdings nicht mehr. Er verstarb am 7. Februar 1964 in Paris; Henri Dargent, sein Assistent, übernahm die Fertigstellung des Break.

Es war ja nicht so, dass die «Berline» einen zu kleinen Kofferraum hatte. Ganz im Gegenteil – ein riesiges, schwarzes Loche erwartete einen, wenn man dann die sehr hohe Ladekante (Torsions-Steifigkeit!) einmal überwunden hatte. Aber es gab halt viele Handwerker, und die brauchten mehr Platz, verlangten nach einem einfacheren Zugang, und wollten nicht grad den riesigen HY oder die doch ziemlich teure DS Break kaufen. Und ausserdem brauchte Citroën einen Konkurrenten zum Renault 4, der sich als Fünftürer erstaunlich schnell und vor allem gut auf dem Markt hatte etablieren können. Es gab den Ami 6 Break als gewöhnlichen Viersitzer, als «Familiale» auch als Fünfsitzer sowie dann als «Commerciale» mit optionalen Einzelsitzen vorne und einer verlängerten Ladeplatte, die den nutzbaren Laderaum auf 1,65 Meter verlängerte und einer Nutzlast von 320 Kilo standhielt. Diese «Commerciale» wurden sogar zu Krankenwagen umgebaut. Dafür wurde der Beifahrersitz ausgebaut und Schienen für die Bahre eingebaut. Der Break läutete die Hochzeit des Ami 6 ein; schon im Modell-Jahrgang 1965 verkauften sich deutlich mehr Break (110’493) als Berline (47’574). Dieses Bild sollte sich bis zum Auslaufen der Produktion 1969 nicht mehr ändern. Der Break wurde zum Verkaufsschlager, der Viertürer verlor immer mehr an Bedeutung. 1966 war das beste Jahr für den Ami 6: 180’085 Exemplare (43’763 Berline, 136’322 Break) konnten abgesetzt werden – und der Citroën wurde zum meistverkauften Automobil Frankreichs, zumindest für ein Jahr. Obwohl der Kombi deutlich weniger lang als die Limousine gebaut wurde, konnte sie den Viertürer noch überholen. 555’398 Break wurden gebaut, nur 483’986 Berline. Von April 1961 bis im September 1969 wurde der Ami 6 gebaut (und noch bis Juli 1971 in den Verkaufsprospekten geführt), auf 1’039’384 Stück belief sich die gesamte Produktion.

Wir würden ja jetzt gerne noch von grossartigen Sporterfolgen berichten, aber es gab keine. Einmal, im Jahr 1969, nahm ein Ami 6 Break an der berüchtigten «Rallye Côte d’Ivoire Bandama» teil, doch der 33. Rang unter den 58 Teilnehmern, von denen 43 die Rallye beenden, ist nicht gerade ein Ruhmesblatt. Schon 1963 versuchten sich die Franzosen Matheron/Chabas bei der Rallye Monte Carlo. Sie fuhren von Athen aus los – und gingen im Schnee unter, erreichen das Zwischenziel nicht. OTL heisst das dann, «over total lateness». Aber auch wenn sich der Ami 6 nicht als Sportgerät eignete – ein grosses Lob wurde ihm noch zu Lebzeiten ausgesprochen: Flaminio Bertoni bezeichnete «la missis» als seine schönste Kreation überhaupt. Und das will doch etwas heissen von einem Mann, der Traction Avant, 2CV und DS erschaffen hatte. Der Ami6 wurde offiziell im März 1969 vom Ami 8 abgelöst, doch die wahre neue Mittelklasse von Citroën war ab 1970 dann der GS. Von einem ganz speziellen Ami 8 wissen wir aber noch eine schöne Geschichte zu erzählen (siehe: Citroën M35 – Hot-Rod mit Zuckerwasser-Motörchen). Mehr Citroën gibt es immer in unserem Archiv – und dann haben wir auch noch eine Übersicht aller unserer Geschichten zum 100. Geburtstag, hier.

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