«Unpopuläre Wege»
Das Leben ist kein Ponyhof. Gerade für Automobilhersteller sind die Vorschriften (aus Brüssel) sehr streng geworden. Doch auch die Kundschaft erwartet längst mehr als nur ein bisschen warme Luft und schöne Worte, wenn es um den Umweltschutz, Recycling und Kreislaufwirtschaft geht. Cléa Martinet, Direktorin für Nachhaltigkeit bei der Renault Group und deren Tochterunternehmen Ampere, führt ein strenges Regime in all diesen Bereichen. Die soeben gewordene Mutter weiss, wovon sie spricht – und was noch nötig sein wird.
radical: Die Renault Group hat sich zum Ziel gesetzt, in Europa bis 2040 und weltweit bis 2050 klimaneutral zu werden. Was müssen Sie jetzt tun, um dies zu erreichen?
Cléa Martinet: Als Automobilhersteller, und damit auch bei der Renault Group, haben wir vier Hauptbereiche, auf die wir uns konzentrieren und für die wir umfassende CO2-Reduktionsprogramme entwickelt haben: 1. Die Beschaffung von Materialien; 2. Die Produktion in den Werken; 3. Die Nutzungsphase des Produkts; 4. Die Recyclingphase. 2022 haben wir unseren ersten Meilenstein erreicht: Wir konnten den CO2-Fussabdruck pro Fahrzeug im Vergleich zum Jahr 2010 um 25 Prozent reduzieren, aber darauf haben wir uns natürlich nicht ausgeruht.
radical: Wo sehen Sie in diesen Bereichen die grossen Hebel, um die Kohlenstoffneutralität zu erreichen?
Martinet: Unser grösster Hebel liegt in der Nutzungsphase. Im Durchschnitt machen die Nutzungsemissionen eines thermischen Fahrzeugs etwa 90 Prozent seiner CO2-Bilanz aus. Indem wir auf Elektrofahrzeuge umsteigen, lösen wir einen grossen Teil des Problems, auch wenn die Batterie die neue Herausforderung bei der Dekarbonisierung darstellt. Aus diesem Grund haben wir Ampere gegründet, unsere Geschäftseinheit, die sich im Einklang mit dem EU Green Deal ganz auf Elektrofahrzeuge konzentriert, um uns auf das Verbot von Verbrennungsmotoren im Jahr 2035 vorzubereiten. Neben der Elektrifizierung unserer Fahrzeuge verringern wir auch den CO2-Fussabdruck unserer Werke. ElectriCity, unser Produktionsstandort, wird im nächsten Jahr einen CO2-Fussabdruck von netto null haben, auch dank unseres französischen Strompartners Voltalia, der Solarenergie liefert. Schliesslich konnten wir in der Produktion umweltfreundlichere Materialien einsetzen (Materialien mit einem geringeren CO2-Fussabdruck, einschliesslich Batterien). Und da es unmöglich ist, als verarbeitende Industrie null Emissionen zu erreichen, werden die verbleibenden 10 Prozent aus Emissionsausgleichsmassnahmen stammen.
radical: Der ACEA-Vorstand, CEO Luca de Meo und – wie ich annehme – auch Sie sind für einen «Cradle-to-Grave»-Ansatz bei der Festlegung von CO2-Zielen für Europa. Was würde das bedeuten?
Martinet: Richtig. Es handelt sich um einen Lebenszyklusansatz, der eine umfassende Dekarbonisierung von der Konzeption bis zum Ende des Lebenszyklus ermöglicht. Wir glauben, dass es der ganzheitlichere Ansatz ist, der am Ende einen noch grösseren Effekt für den Planeten hat. Das bedeutet, dass die Technik alternative Ansätze für vollelektrische oder wasserstoffelektrische Antriebsstränge entwickeln könnte, während die CO2-Gleichung insgesamt weiter gesenkt wird. Eine Betrachtung von der Wiege bis zur Bahre umfasst den gesamten Lebenszyklus einschliesslich der Emissionen im Zusammenhang mit der Herstellung von Materialien, der im Auto verwendeten Energie/dem Kraftstoff, den Recyclingprozessen und dem Fussabdruck bei der Herstellung. Dieser Ansatz der Technologieneutralität ist unerlässlich, wenn wir einen pragmatischen Weg zur Erreichung unserer Gesamtreduktionsziele finden wollen.
radical: Wenn wir uns die neue EV-Wertschöpfungskette ansehen, sind die Themen Batterieproduktion, Beschaffung und Entsorgung wichtig. Wie sehen Sie die Auswirkungen dieser Themen?
Martinet: Ampere ist die Einheit der Renault Group für die Entwicklung und Produktion von Elektrofahrzeugen. Ampere entwickelt Elektrofahrzeuge für Alpine, Renault, Dacia und Mobilize. Innerhalb von Ampere arbeiten die Teams kontinuierlich an der Verbesserung des CO2-Fussabdrucks unserer EV-Batterien. Wir haben kürzlich angekündigt, dass wir eine neue Batterietechnologie einführen werden. Zusätzlich zu den Nickel-Kobalt-Mangan-Batterien (NCM) werden wir Batterien mit LFP-Technologie (Lithium-Eisen-Phosphat) anbieten. Ampere arbeitet eng mit seinen Lieferanten LG Energy Solution und CATL zusammen, um eine integrierte Wertschöpfungskette auf dem europäischen Kontinent zu entwickeln und so die LFP-Technologie für seine in Europa hergestellten Fahrzeuge aus Partnerwerken in Ungarn (CATL) und Polen (LG Energy Solutions) zu integrieren. Die NCM-Batterien werden von Verkor (Gigafactory in Dunkerque in der Nähe von Douai) und AESC (Douai) in Frankreich stammen. Insgesamt wollen wir den CO2-Fussabdruck der Batterien bis 2030 um 35 Prozent reduzieren – dies im Vergleich zu ZOE im Jahr 2020.
radical: Das hört sich höchst ambitioniert an. Mit welchen Massnahmen wollen Sie dieses Ziel erreichen?
Martinet: Wir werden die Batterieproduktion nach Frankreich verlagern, mit dem Start der Gigafactory neben unserem EV-Produktionswerk im Norden Frankreichs, in Douai, in dem bereits Renault Megane, Scenic, R5 und Alpine A290 produziert werden, so dass kurze Transportwege ein wichtiges Element sind. Die verantwortungsvolle Beschaffung von Materialien und die Verwendung von recycelten Materialien werden den CO2-Fussabdruck unserer Antriebsbatterien in den Fahrzeugen weiter verringern. Wir haben Absichtserklärungen mit wichtigen Bergbauunternehmen unterzeichnet, die kohlenstoffarme Mineralien anbieten: Terrafame für Nickel, Arverne und Vulcan für Lithium zum Beispiel. Mein nächster Punkt hat zwar nicht ganz damit zu tun, aber wussten Sie, dass Renault ein Pionier ist bei jenen E-Antrieben, die ohne seltene Erden auskommen – und zwar schon seit 10 Jahren?
radical: Renault hat mit dem Scenic/R5 usw. den Recyclinganteil in den Autos auf 24 bis 27 Prozent erhöht. Ist dieser Recyclinganteil teurer als «frische Materialien»; ist es kompliziert, hochwertige Materialien zu beschaffen, die die Qualitätsziele unterstützen? Wo sind die Ziele in diesem Bereich?
Martinet: Unser übergeordnetes Ziel als Renault Group ist es, dass bis 2030 33 Prozent des Fahrzeuggewichts aus recycelten Materialien hergestellt werden und 40 Prozent des Cockpits der Marke Renault. Das ist ziemlich ehrgeizig und nicht zu verwechseln mit der Recyclingfähigkeit des produzierten Autos, die heute natürlich bei mehr als 95 Prozent liegt.
radical: Renault-Autos werden «lederfrei» und sie werden ein Tempolimit von 180 km/h haben. Werden alle Verbraucher mit diesen Massnahmen einverstanden sein?
Martinet: Hoffentlich ja. Als Autohersteller muss man aufgrund seiner Verantwortung manchmal Wege wählen, die nicht populär sind – die Begrenzung der Geschwindigkeit zum Beispiel. Unser CEO Luca de Meo hat bewusst die Geschwindigkeit auf 180 km/h begrenzt, weil Geschwindigkeit die Hauptursache für tödliche Unfälle auf den europäischen Strassen ist. Dasselbe gilt für Leder: Wenn Sie wissen, dass Leder eine der Hauptursachen für die Abholzung von Wäldern ist, machen recycelte oder biologisch hergestellte Alternativen viel mehr Sinn.
radical: Die Renault Group ist führend im Bereich der Kreislaufwirtschaft. Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Erfolge und Herausforderungen in diesem Bereich?
Martinet: Die Renault Group war schon immer ein Vorreiter der Kreislaufwirtschaft im Automobilbereich. Mit «Future is Neutral» wollen wir Recyclingdienste und -materialien auch anderen Unternehmen anbieten. Eine der Herausforderungen ist die Koordinierung der vielen spezialisierten Technologieunternehmen, die in diesem Bereich tätig sind, und die Schaffung einer nachhaltigen, in Europa ansässigen Industrie rund um das Ende der Lebensdauer von Fahrzeugen und Batterien. Und die eine Herausforderung, die ich nennen würde, ist natürlich der Fortschritt beim Recycling in geschlossenen Kreisläufen: Die Wiederverwendung der recycelten Materialien für dasselbe neue Teil (wo es herkommt), z.B. Batteriematerialien, die wieder in die Batterieproduktion einfliessen.
radical: Können wir dieses Interview in 10 Jahren wiederholen? Ich habe das Gefühl, dass wir dann so viele Entwicklungen haben werden, über die wir berichten können.
Martinet: Auf jeden Fall, lassen Sie uns das einplanen – das dürfte interessant werden.
Es ist dieses exklusive Interview Teil der Renault-Beilage in unserer Print-Ausgabe radical #2. Deren Inhaltsverzeichnis finden Sie hier.
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