Erklärungsbedarf
- Der Polestar 3 ist das erste SUV der Marke
- Erstaunlicherweise nicht mit 800-V-Architektur
- Ab sofort bestellbar, ausgeliefert wird erst Ende 2023
Wir haben uns für «radical zero» zum Ziel gesetzt, die E-Mobilität so gut wie möglich zu erklären. Denn da gibt es weiterhin viel Bedarf, Stromer ist nicht gleich Stromer, und manche Dinge bedürfen weiterhin einer hoffentlich verständlichen Beschreibung. Da geht es etwa um den Unterschied zwischen einer 400-Volt- und einer 800-Volt-Architektur. Klar, mehr ist immer besser, aber ein 800-Volt-System ist zwar teurer, hat aber einen nicht unwesentlichen Einfluss auch auf das Ladeverhalte eines E-Autos: Es lädt schlicht und einfach schneller.

Die Rechnung ist einfach. Nehmen wir einen Ionity-Lader, das sind derzeit die schnellsten in Europa. Er kann 350 kW, theoretisch, liefert aber sicher Strom mit abgesicherten 500 Ampere. 500 A mal 400 V sind ganz einfach 200 kW. Um es zu verdeutlichen: 500 A mal 800 V sind 400 kW. Der Ionity-Lader schafft es wie erwähnt auf 350 kW, ist also von der 800-V-Architektur eigentlich überfordert. Deshalb drosseln die entsprechenden Anbieter, also derzeit Porsche/Audi, Hyundai/Kia und seit jüngstem auch Maserati, ihre Systeme auf etwa 250 bis 270 kW Ladegeschwindigkeit. Auch zum Schutz der Akkus.

Und jetzt kommen wir zum Polestar 3. Der basiert auf der ganz neuen SPA2-Plattform, genau wie der Lotus Eletre und auch der Volvo EX90 (wird am 9.11.2022 vorgestellt). SPA2 verfügt über eine doch sehr klassische 400-V-Architektur, wie die meisten anderen E-Fahrzeuge auch, etwa MEB von Volkswagen oder CMF-VF bei Renault/Nissan oder eCMP bei Stellantis oder BMW oder Mercedes oder Tesla. Polestar gibt nun aber eine maximale Ladegeschwindigkeit von 250 kW an für sein neues Modell. Bloss ist das, wie oben vorgerechnet, beim derzeitigen Stand der Technik gar nicht möglich, 400 V mal 500 A ergibt einfach beim besten Willen nur 200 kW. Vielleicht, in einer fernen Zukunft, geht da mehr, Tesla ist gerade dran an einer sanften, schrittweisen Erhöhung. Wie wir aber alle wissen, hat Tesla ein paar Jahre Technologievorsprung, nicht nur bei der Infrastruktur, sondern vor allem bei der Ladetechnik.

Während es bei Mittelklasse-E-Fahrzeugen und Modellen mit kleineren Batterien – derzeit – durchaus noch Sinn ergeben mag, vor allem aus Kostengründen, an der 400-V-Architektur festzuhalten, ist das beim neuen Polestar 3 und der SPA2-Plattform definitiv nicht der Fall. Das chinesische SUV verfügt über eine gewaltige 111-kWh-Batterie (netto 107 kWh), da muss so schnell wie möglich so viel Strom rein wie nur möglich, sonst werden die Ladezeiten absurd. Polestar schreibt in seiner Pressemitteilung, dass sich das neue SUV mit 250 kW innert 30 Minuten von 10 auf 80 Prozent SOC laden lässt.

Das stimmt auf dem sehr geduldigen Papier, 70 Prozent von 107 kW sind 74,9 kW, dies geteilt durch die angegebenen 250 kW, da wäre eine Vollladung bei Vollladung theoretisch sogar in 20 Minuten möglich. Immerhin ist Polestar so ehrlich zuzugeben, dass kein Stromer dies volle Häcke durchziehen kann, bei 40 Prozent SoC bricht er jeder zum ersten Mal ein, bei 60 Prozent SoC noch einmal und noch mehr, da sind die 30 Minuten schon mehr als nur optimistisch.

Nun kommen wir beim Polestar 3 derzeit auf maximal 200 kW, da geben wir also noch einmal einen Fünftel drauf, sind dann bei 36 Minuten. In Tat und Wahrheit, ohne Vorkonditionierung und dem ganzen Bums, der im echten Leben eh niemanden interessiert: eine Stunde. Dies dann, seien wir so nett, inkl. Abfahrt von der Autobahn, Suchen nach der Ladestation, Einstöpseln, Kärtchen zücken, Warten auf die Verbindung beim Hochladen, Warten auf die Verbindung beim Abbruch, Entstöpseln, wieder Hochfahren auf die Autobahn. Die riesige Batterie bietet, ja, theoretisch Vorteile bei der Reichweite, im wahren Leben interessiert das aber niemanden (mehr), da geht es nur um die Echt-Zeit zwischen 10 und 80 Prozent SoC. (Das wird in Zukunft die ganz zentrale Mess-Grösse bei den Tests von «radical zero» sein.)

Kurzstreckenfahrer und Heimtanker an der Wallbox kann das egal sein, sie suckeln über Nacht 11 oder vielleicht sogar 22 kW aus ihrer Wallbox (beim Polestar 3 sind es übrigens nur 11, noch so eine Ernüchterung). Und gutis. (Aber da müssten wir dann aber dringend mal über die Ladeverluste schreiben, doch das machen wir dann beim Test des Skoda Enyaq (bald), da haben wir das akribisch gemessen – und kommen auf ein sehr ernüchterndes Resultat. Stellen wir es einfach mal in den Raum: 20 Prozent. Also so, wie wenn man beim Benzintanken nach vier Litern mal einen Liter auf den Boden schüttet.) Den Langstreckenfahrer aber, der am Schnelllader steht, weil er schnell laden will, interessiert solches sehr. Und da kommt der Polestar 3 jetzt irgendwie in einen Erklärungsnotstand. Wir haben den Schweizer Importeur um ein Statement dazu gebeten, doch leider nichts erhalten.

Nochmals, uns wundert das jetzt schon sehr. Die Konzern-Mutter von Polestar, Geely, ist sonst extrem fortschrittlich. Auch sehr, sehr schnell in der Entwicklung, noch schneller als Toyota. Schon im nächsten Jahr kommen die ersten Fahrzeuge von Zeekr, einer weiteren Geely-Tochter, mit einer reinen Natrium-Batterie (da fällt dann also das böse Lithium weg). Und für Ende nächstes Jahr sind erste Feststoff-Batterien angekündigt, damit wird sich das Spiel dann sowieso komplett ändern, diese Akkus brauchen bei höherer Energiedichte viel weniger Platz. Das wird zur Folge haben, dass neue, kompaktere und folglich leichtere Plattformen konstruiert werden können. SPA2 ist dann schon wieder veraltet, denn diese aktuelle Plattform, die in erster Linie für Luxusprodukte verwendet wird, hat von all dem: nichts. Nicht einmal eine 800-V-Architektur.

Doch zurück zum Polestar 3. Das wird wohl ein gutes Stück werden, dieses erste SUV der chinesischen Marke. Optisch löst sich Polestar von Volvo, das ist gut so. Daran hat sicher Thomas Ingenlath, der CEO von Polestar, einen nicht unwesentlichen Anteil; Ingenlath, einst bei VW und Volvo, ist wohl der erste Designer, der es zum Markenchef gebracht hat. Und man kann bei ihm sicher sein, dass auf Optik und Styling und Feinheiten wie eine saubere Lichtsignatur immer grössten Wert gelegt wird. Als SUV trifft der 3. Polestar sowieso den Nerv der Zeit, da wird man ihm auch die sanfte Coupé-Form vergeben, die ihn dann doch ziemlich viel Kofferraumvolumen kostet. Etwas über 400 Liter, das kann auch ein VW Golf – und das geht im Vergleich zum erklärten Konkurrenten Tesla in Richtung müder Witz.
Die technischen Daten sind einigermassen beeindruckend: die «Long Range»-Variante kommt mit 360 kW Leistung und 910 Nm maximalem Drehmoment, die Reichweite soll nach WLTP 610 Kilometer betragen. Mit dem Performance-Paket sind es weniger Kilometer, aber dafür 380 kW und 910 Nm maximales Drehmoment. Der schnellere Polestar 3 rennt in weniger als 5 Sekunden von 0 auf 100 km/h – was wiederum weniger beeindruckend ist, da haut es die stärksten Tesla in nur wenig mehr als der Hälfte der Zeit auf die 100. Es könnte daran liegen, dass der Polestar 3 stolze 2,6 Tonnen wiegt, mindestens. Für ein kommodes Fahrvergnügen sorgt eine Zweikammer-Luftfederung, die auch sportlich eingestellt werden kann, dann wird das Fahrwerk betont hecklastig kalibriert. Die Hinterachse wird aber auch automatisch entkoppelt, damit der Allradler beim Einherrollen Energie sparen kann.

Wo das SUV aber ganz, ganz oben sein wird, das ist bei den mehr als nur reichlich vorhandenen Sicherheits- und sonstigen Assistenzsystemen. Der Polestar verfügt über das neuste Android-Betriebssystem von Google – und nicht weniger als fünf Radar-Module, fünf Kameras und zwölf Ultraschallmodule. Er kommt zudem als erstes Fahrzeug optional mit einer Steuereinheit von Nvidia. Diese umfasst drei weitere Kameras und vier Ultraschallsensoren, welche die Umgebung des Fahrzeugs in Echtzeit abscannen. Das ist einerseits eine Vorbereitung auf das vollautonome Fahren. Und bietet vor allem eine noch höhere Sensibilität der reichlich vorhandenen Sicherheitssysteme. Der Innenraum wird schliesslich überwacht mit zwei weiteren Kameras, welche die Aufmerksamkeit des Fahrer unterstützen sollen. Selbstverständlich erfolgen die wahrscheinlich häufigen Software-Updates «over the air». Bidirektional kann er auch.

Man kann den Polestar 3 ab sofort bestellen, die Preisskala beginnt bei 99’900 Franken, dazu kommen dann halt verschiedene, nicht ganz günstige Pakete. Die ersten Fahrzeuge werden ab Mitte 2023 im chinesischen Werk in Chengdu produziert, mit ersten Auslieferungen ist im vierten Quartal 2023 zu rechnen. 2024 wird Polestar noch ein neues Werk in den USA in Betrieb nehmen.

Mehr Stromer gibt es unter: zero. Und sonst ist da ja noch das Archiv.
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