Ehre, wem Ehre gebührt
Er hätte gut auch noch ein bisschen spazierenfahren können, Raymond Sommer, an diesem Sonntagnachmittag, 18. Juni 1938. Doch er trieb seinen Alfa Romeo 8C 2900B (#412033) auch zwei Stunden vor Schluss noch grob über die Strecke der 24 Stunden von Le Mans, er war hier der Chef, hatte 1932 und 1933 schon gewonnen, war bei jeder Austragung, an der er in Le Mans dabei war, in Führung gelegen. 14 Runden Vorsprung hatten er und sein Partner Clemente Biondetti schon herausgefahren, die schnellste Rennrunde sowieso, doch «Raymond Löwenherz» wollte mehr – und fuhr sich einen Platten ein. Der dann auch noch zu einem Aufhängungsschaden führte. Und zum Ausfall. Sommer war sich das gewohnt, er fiel aus – oder siegte. Biondetti schüttelte nur kurz den Kopf, zog sich um und reiste unverzüglich nach Italien zurück.

Es war trotzdem ein gutes Jahr für Clemente Biondetti, geboren 1898 in Budduso auf Sardinien: Anfang April hatte er auf einem Alfa Romeo 8C 2900C (#412031) die Mille Miglia gewonnen. Dabei hatte er zwar reichlich Glück, denn sein Teamkollege Calo Maria Pintacuda hatte das Rennen dominiert, lag zur Halbzeit in Rom deutlich an der Spitze. Doch es passierte, was immer geschah bei Mille Miglia: Nie konnte der Fahrer, der in Rom vorne lag, das Rennen gewinnen. Pintacuda hatte Bremsproblme, musste selber Hand anlegen, verlor dabei eine halbe Stunde – und kam zwei Minuten hinter Biondetti ins Ziel ins Brescia.

Neun Jahre später, 1947, fuhr Biondetti wieder einen Alfa Romeo 8C 2900B (#412036) – und ging das Rennen einigermassen gemächlich an. Vorne pflügte der ewige Tazio Nuvolari in seinem nur gerade 65 PS starken, aber extrem leichten und wendigen Cisitalia 202 SMM durch den strömenden Regen, hatte in Rom neun Minuten Vorsprung auf Biondetti. Dann geschah, was bei der Mille Miglia Miglia immer passierte: Nuvolari musste nach Florenz anhalten, um den nass gewordenen Verteiler seines Spyder zu tauschen, verlor dabei 20 Minuten. Biondetti holte sich den.Sieg mit 15 Minuten Vorsprung.

Ein Jahr später kam es wieder zu einem epischen Duell von Nuvolari und Biondetti. Beide starteten für Ferrari, Nuvolari erhielt einen 166 Spyder Corsa, das schnellste Auto, das Enzo Ferrari damals zur Verfügung hatte. Denn Nuvolari war der Liebling nicht nur der italienischen Massen, sondern auch von Enzo Ferrari. Doch der fliegende Mantuaner war gesundheitlich stark angeschlagen, hatte das letzte halbe Jahr vor der Mille Miglia (2./3. Mai 1948) in einem Sanatorium verbracht, er hustete dauernd und spuckte Blut – und erst zwei Tage vor dem Start willigte er ein, doch für Ferrari zu fahren. Zu Biondetti hingegen hatte der Commendatore ein gespaltenes Verhältnis: der Sarde war sehr eigenwillig, hatte seine ganz eigenen Vorstellung der Abstimmung seiner Rennfahrzeuge und fuhr nicht für das Team, sondern strategisch. Aber wenn Ferrari beim ersten Auftritt seines eigenen Teams bei der Mille Miglia eine Chance haben wollte, dann war es besser, Biondetti im eigenen Team zu haben denn als Gegner. Der bereits 50jährige Sarde erhielt einen 166S mit einem Coupé-Aufbau von Allemano.

Nuvolari knallte mal vorne weg. Vor Rom hatte er einen ersten Unfall, entledigte sich dabei des linken Kotflügels und der Motorhaube. In Rom hatte er eine Stunde Vorsprung auf den Rest des Feldes. Auf dem Weg nach Bologna brach ihm die Halterung seines Sitzes, den er durch einen Sack Orangen ersetzte, in Modena brach ihm vorne ein Stossdämpfer, doch Nuvolari liess sich nicht beeindrucken, hatte weiterhin eine halbe Stunde Vorsprung und fuhr den waidwunden Ferrari weiter in Richtung Brescia. Doch bei Parma verliessen ihn die Bremsen, Nuvolari musste aufgeben. Gewinner der Mille Miglia 1948 wurde, wen überrascht es: Clemente Biondetti. Und das mit einem Vorsprung von fast anderthalb Stunden.

Ach ja, auch 1949 gewann Biondetti, diesmal auf einer Ferrari 166 MM Barchetta mit Touring-Aufbau, diesem so grossartigen Vorbild für alle Roadster aller Zeiten. Er sollte der einzige Fahrer bleiben, der die Mille Miglia vier Mal gewann. Übrigens: 1948 und 1949 gewann Biondetti auch noch die Targa Florio. Er hatte nie einen Übernamen wie Taruffi, er hatte nie Mäzene wie Ascari, er fuhr nie im Zweireiher wie Marzotto (dafür fehlte ihm das Spaziergeld) – Biondetti machte einfach eine guten Job. Und er wäre wohl ein guter Formel-1-Fahrer gewesen, sein materialschonender Fahrstil hätte in jenen Frühjahren der obersten Liga wohl bestens gepasst, doch er war 1950, bei der Einführung, schon 52 Jahre, es reichte ihm rein physisch nicht mehr für vorderste Plätze.

Aber warum gehört Clemente Biondetti trotzdem zu unseren «related»-Stories? Weil wir unbedingt einen Grund suchen, auch einmal etwas über Tazio Nuvolari zu schreiben. Und weil er 1953 in der Sportwagen-Weltmeisterschaft für Lancia bei den 24 Sunden von Le Mans antrat, in einem D20 – und im gleichen Jahr wohl mehr als einen 8.Platz bei der Mille Miglia erreicht hätte, hätten er und sein Beifahrer Barovero ihr Fahrzeug nicht ein paar Kilometer weit stossen müssen nach einem Getriebeschaden. Und weil wir noch einen Übergang suchen zum Ferrari 250 MM, mit dem Biondetti 1954 seine letzte Mille Miglia bestritt (und Vierter wurde); von diesem 250 MM standen aber schon 1953 bei Mille Miglia gleich acht Stück im Einsatz, sie haben also unbedingt eine «related»-Story verdient.

Clemente Biondetti verstarb am 24. Februar 1955 in Florenz. Er hatte die Jahre zuvor an Krebs gelitten, sein Gesicht wurde durch die Krankheit entstellt. Doch der Sarde kämpfte immer hart, mit sich, mit den Gegnern, mit seiner Krankheit. Er hatte immer seinen eigenen Willen, konstruierte sich auch seinen eigenen Fahrzeuge, verbaute Jaguar-Motoren in Ferrari-Chassis, was weder Jaguar noch Ferrari als glänzende Idee empfanden. Rekordsieger der Mille Miglia zu sein, das ist aber ganz sicher eine ganz besondere Ehre. Eine ganz grosse.

Es ist dies eine «related»-Story zur Sportwagen-Weltmeisterschaft 1953. Mehr schöne Geschichten haben wir in unserem Archiv.
Gib als erster einen Kommentar ab