Der Mann mit dem Hammer
Am 20. November 2011 verstarb Sergio Scaglietti, im Alter von 91 Jahren, einer der grossartigsten Auto-Künstler aller Zeiten. Die Bezeichnung Designer traf nie so richtig auf ihn zu, denn Scaglietti arbeitete höchst selten mit Zeichnungen, sondern lieber – mit dem Hammer. Seine Carrozzeria Scaglietti, die er 1951 in Maranello gegründet hatte, war berühmt für ihre wunderbaren Aluminiumarbeiten – und der beste Freund von Sergio Scaglietti, Enzo Ferrari, war auch sein bester Kunde. Aus der Hand von Scaglietti entstanden einige der schönsten Ferrari-Kreationen überhaupt, am berühmtesten ist wohl der 250 GTO, doch dann gibt es da auch noch den hinreissenden 375 MM, den Roberto Rossellini bestellt hatte und seiner Frau, Ingrid Bergman, schenkte, oder den famosen 250 Testa Rossa von 1957. Hübsch ist noch die Geschichte, wie der Testa Rossa, das Rotkäppchen, gemäss Sergio Scaglietti zu seinem Namen gekommen sei. Der damalige Produktionsleiter sei zu Enzo Ferrari gegangen, um ihm mitzuteilen, dass keine schwarze Farbe mehr vorhanden sei, um die Motorblöcke zu bemalen. Ferrari habe gefragt, was denn noch an Lager sei. Rot, war die Antwort. Darauf soll der «Commendatore» geantwortet habe, er soll die Dinger dann halt rot lackieren. «Und dann nennen wir sie Testa Rossa.»
Die Arbeitsweise von Scaglietti war einzig- und eigenartig. Er baute sich einen Stahlrahmen, und dann wurde das Aluminium darauf gehämmert, nicht über Holz, wie das sonst meist geschieht, sondern auf Sandsäcke, weil das gemäss Aussage von Scaglietti «weicher» sei. Er habe alles nur «mit den Augen» gemacht, erzählte der Italiener einmal, und wenn man seine Kreationen anschaut, dann muss der Mann ausserordentliche gute Augen gehabt haben. Im lesenswerten Buch «Ferrari: Stories From Those Who Lived the Legend» (John Lamm/Chuck Queener; 2007) wird beschrieben, dass Scaglietti seine Inspiration für den 250 GTO beim «Betrachten von Autos» erhalten habe. Eine eigenartige Aussage. Doch dann wird präzisiert, mit einem Zitat von Scaglietti: «Wenn man seinen Kopf gebraucht und weiss, dass ein Auto schnell sein soll, dann macht man es kleiner und leichter.»
Eines seiner Meisterwerke ist aber nicht besonders leicht, sondern gehört zu den Schwergewichten unter den Ferrari: Die Rede ist vom Ferrari 410 Superamerica Coupé mit Jahrgang 1957 und Chassisnummer 0671 SA. Ein Einzelstück – mit einer aufregenden Geschichte. Bestellt hatte 0671 SA Dottore Enrico Wax, ein reicher Italiener, der sein Vermögen mit seinem Import-Geschäft Wax & Vitale gemacht hatte, in Italien unter anderem Johnnie Walker verkaufte – und einer der ersten und auch besten Kunden von Ferrari war. Die Interpretation des 410 Superamerica von Scaglietti fiel sehr aussergewöhnlich aus, und das nicht nur, weil 0671 SA über ein Dach aus rostfreiem Stahl sowie sehr ungewöhnliche Heckflossen verfügte. Wunderbar die schwarze Lackierung, die einen feinen Kontrast zum grauen Dach und den ebenfalls grauen Heckflosen darstellte, sie passte perfekt zu den doch mächtigen 410 Superamerica.
Doch Dottore Wax behielt seinen 410er nicht lange, verkauft ihn in die Schweiz, und von dort gelangte 0671 SA dann in die USA. Dort waren sich verschiedene Besitzer des Wertes des einmaligen Fahrzeugs wohl nicht bewusst, es gibt Bilder aus den 70er Jahren, da erkennt man den Scaglietti-Superamerica kaum wieder. Auch soll am Motor gebastelt worden sein, es heisst, dass der Hubraum auf 5,1 Liter aufgebohrt worden sei. 1973 wurde der Wagen gestohlen, und der Dieb hatte anscheinend wenig Kunstverständnis, er riss die Karosse herunter und versenkte sie, so erzählt man sich zumindest, in einem See.
Das Chassis gelangte zu einem Bauern in Oregon, der daraus einen Traktor – Bodenfreiheit? – bauen wollte. Ein amerikanischer Kenner namens Greg Garrison entdeckte das nackte Chassis – und erweckte 0671 SA zu neuem Leben. Mit Hilfe von Sergio Scaglietti und vier seiner ehemaligen Mitarbeiter, die schon am originalen Fahrzeug gearbeitet hatten, wurde der Ferrari 410 Superamerica in den 80er-Jahren in zweijähriger Arbeit komplett neu aufgebaut. Und dann, das ist etwas erstaunlich, dunkelrot lackiert, obwohl er doch einst schwarz gewesen war. Auch beim Innenleben ist man nicht ganz sicher, ob der originale 0671 SA wirklich so ausgesehen hat, wie er jetzt ist. Es gibt Quellen, die behaupten, das Interieur sei mit blau-silbrig schimmernden Plastikbezügen versehen gewesen, aber das lässt sich nicht mehr zweifelsfrei nachweisen.
Die «America»-Linie von Ferrari war der nackte Wahnsinn. Schon der Vorgänger, der von 1951 bis 1955 gebaute 375 America, war ein absoluter Supersportwagen, wie ihn die Welt damals noch nie gesehen hatte. Der von Aurelio Lampredi konstruierte V12 stammte direkt aus der Formel 1, hatte 4,5 Liter Hubraum und schaffte etwa 300 PS. Für den 1955 vorgestellten 410 Superamerica wurde der Hubraum auf 4962 ccm (Bohrung x Hub: 88 x 68 mm) vergrössert, mit drei Weber-Doppelvergasern (40DCF) und erhöhter Verdichtung (8,5:1) stieg die Leistung auf 340 PS. Geschaltet wurde über ein manuelles Viergang-Getriebe. Das Fahrwerk entsprach mit dem Kastenrahmen, doppelten Dreieckslenkern vorne, einer Starrachse hinten und den Trommelbremsen dem 250 GT, dem Brot-und-Butter-Auto von Ferrari in jenen Jahren. Der Radstand betrug zuerst 2,8 Meter, bei späteren Modellen dann noch 2,6 Meter; von der ersten Serie der 410 Superamerica wurden 1955/56 17 Stück gebaut, 14 davon mit Pininfarina-Karosserie, ein Coupé sowie ein Cabrio von Boano sowie noch ein weiteres Coupé von Ghia. Unsäglich teuer waren sie, die 410 Superamerica, 16’800 Dollar verlangte der amerikanische Importeur Luigi Chinetti 1956 auf der New York Auto Show, das Doppelte wie für einen Mercedes-Benz 300 SL mit Flügeltüren, der ja auch nicht von schlechten Eltern war.
Die zweite Serie, gebaut 1956/57, besass dann nur noch den kürzeren Radstand. Nur sieben Exemplare wurden gebaut, sechs bei Pininfarina, und dazu noch der hier beschriebene 0671 SA von Scaglietti. Von der dritten Serie, 1958/59, gab es dann, wieder auf kurzem Radstand, 12 Stück, alles Coupés von Pininfarina. Es gab auch noch einige technische Verbesserungen, grössere Vergaser (Weber 42DCF) und mehr Leistung (360 PS, mindestens, andere Quellen sprechen von 400 Pferden) sowie vergrösserte Trommelbremsen. Das war auch nötig, die 4,7 Meter langen und 1,70 Metern breiten 410 Superamerica waren schwer, 1600, vielleicht auch 1700 Kilo, obwohl Ferrari selber ein Leergewicht von 1200 Kilo angab. «Kleiner und leichter», wie Scaglietti sagte, ist auf jeden Fall anders.
Mehr Ferrari finden sich immer in unserem Archiv.
Gib als erster einen Kommentar ab