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radical zero: Fahrbericht Nio EL6

Bereicherung

Nio ist eine Bereicherung. Das chinesische Start-up, gegründet erst 2014, hat seit 2019 sieben neue Modelle lanciert, jetzt ist die Reihe am EL6, einem SUV, das durchaus den Geschmack der breiten Masse treffen dürfte, nicht nur optisch. Der EL6 ist 4,85 Meter lang, 1,99 Meter breit, 1,7 Meter hoch, er wiegt mindestens 2,4 Tonnen und verfügt über einen Kofferraum, der sich von 579 auf 1430 Liter erweitern lässt. Ja, ein mächtiges Trumm, vor allem sehr breit, was aber daran liegt, dass alle Nio-Modelle auf der gleichen Plattform basieren.

Was wiederum daran liegt, dass die Chinesen als einziger Hersteller einen «Power Swap» anbieten: In 5 Minuten kann in speziellen Stationen die ganze Batterie getauscht werden. Das wird von Robotern erledigt, in Europa sind es erst wenige, in China gibt es aber bereits fast 2000 dieser Stationen. Selbstverständlich lässt sich der Nio EL6 auch an konventionellen Schnellladern tanken, je nach Akku-Grösse mit bis zu 180 kW. Zwei Batteriengrössen sind derzeit erhältlich, 75 und 100 kW; in den nächsten Monaten soll noch ein 150-kW-Monster dazukommen, dann soll die Reichweite auf gut 800 Kilometer steigen.

Auch sonst sind es beachtliche Zahlen: Der EL6 wird vorne von einem Induktionsmotor mit 150 kW angetrieben, hinten von einem 210 kW starken PermanentMagnet-E-Motor. Auf die insgesamt 490 PS kommen auch noch 700 Nm maximales Drehmoment, es haut das SUV in 4,5 Sekunden von 0 auf 100 km/h, maximal sind 200 km/h möglich. Erfreulich ist: Der Verbrauch bleibt relativ bescheiden, auf unserer nicht wirklich zurückhaltend gefahrenen ersten Probefahrt auch über deutsche Autobahnen blieben wir im Schnitt unter 18 kWh/100 km. Da geht sicher auch weniger.

Eigentlich ist der schwere Fuss auch nicht wirklich die Domäne des Chinesen. Die Lenkung ist, nun, es gibt sicher bessere. Das Fahrwerk ist in der Komfort-Stellung sehr weich, filtert dann zwar so ziemlich alles weg, was es an Unebenheiten gibt, doch der Wagen schaukelt dann wie ein Schiffchen auf unruhigem Wasser. Geht man auf Sport oder gar Sport+, wird das deutlich besser, dann steht auch die volle Leistung zur Verfügung, doch dem Verbrauch hilft das sicher nicht. Grossartig ist das Fahrverhalten dann immer noch nicht, aber wenigstens nicht mehr so schwammig. Immerhin ist bei den acht Fahrmodi eine deutliche Spreizung erkennbar, die allerdings immer auch etwas klinisch anmutet.

Gar nicht künstlich ist dafür der Innenraum des Nio. Die Platzverhältnisse sind fürstlich, auch hinten sitzt man ausgezeichnet. Der Innenraum ist sowieso das Prunkstück des Chinesen, hochwertige Materialien, sehr sauber verarbeitet – der EL6 bewegt sich zweifellos auf Premium-Niveau. Das gilt auch für die Bedienerführung, die hauptsächlich über den gewaltigen Touchscreen geschieht. Und über «Nomi», die fröhliche Kugel auf dem Armaturenbrett, deren Spracherkennung derzeit wohl «benchmark» ist im automobilen Bereich.

Der Nio EL6 mit der grossen Batterie kostet in Deutschland ab 53’500 Euro. Dazu kommen entweder 289 Euro Batteriemiete im Monat – oder satte 21’000 Euro zusätzlich, wenn man den Akku kaufen will. Dann kann man allerdings nicht vom möglichen Batterie-Tausch profitieren. Nio bietet auch «all inclusive»-Angebote, quasi das ganze Buffet mit Strom, Versicherung etc., doch auch das ist nicht wirklich günstig – und noch ein bisschen kompliziert, da könnte «Nomi» allenfalls noch ein bisschen nachbessern.

Aber nochmals von vorne: Warum bezeichnen wir Nio als Bereicherung, obwohl der EL6 doch aussieht, als ob er von künstlicher Intelligenz entworfen worden ist? Was ist besonders an dieser chinesischen Marke, die mit dem EL6 ein zwar überdurchschnittliches, aber sicher nicht herausragendes Produkt auf den Markt bringt? Brauchen wir wirklich noch ein weiteres, nicht wirklich günstiges fahrendes Smartphone mehr auf der Strasse? Wir denken: ja. Denn die Ansätze von Nio unterscheiden sich teilweise deutlich von jenen der etablierten Hersteller. Damit meinen wir weniger den «Power Swap» als vielmehr das wirklich kundenzentrierte Auftreten der Marke.

Nio pflegt den Kontakt zu seinen Kunden in einem ganz anderen Mass als alle anderen Hersteller. Da gibt es Clubs, Treffen, Communities – und vor allem eine sehr direkte Kommunikation. Wenn die Nio-Besitzerin ein Problem hat oder einen Verbesserungsvorschlag, dann kann sie das über ihre App mit der Gemeinschaft teilen, besprechen, an die Ingenieure weiterleiten – und sie wird auch gehört, gelesen. So können die Chinesen nicht nur viel Ärger vermeiden, sie profitieren auch sehr direkt von Schwarmwissen – und können die entsprechenden Aufgaben in kürzester Zeit anpacken. Das macht in dieser Form kein anderer Hersteller, auch nicht nur annäherend. Aber genau das hat Zukunft, gerade dann, wenn die Hardware der Automobile immer ähnlicher wird. Noch ein elektrisches SUV braucht wahrlich niemand – ein gutes durchdachtes Automobil ist aber immer gefragt. Und da sind die Chinesen von Nio ganz weit vorne.

Mehr Strom: zero. Alles andere: Archiv.

1 kommentar

  1. UliP UliP

    Das entscheidende bei NIO ist aus meiner Sicht die Zukunftsorientierte Batterie Upgrade Option. Bei allen anderen Stromern bin ich auf die initial verbaute Akku Einheit angewiesen. Bei NIO habe ich die Aussicht, dass ich zeitnah auf die 150kw wechseln kann ohne ein neues Auto erwerben zu müssen.

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