Der Diamant
Diese Geschichte beginnt 1931, als ein junger, in London geborener Ingenieur namens Rudolf Uhlenhaut direkt nach seinem Studium bei Mercedes eine Anstellung fand. In den ersten Jahren musste er sich durch die Produktion der Serienfahrzeuge hocharbeiten, erst als das Rennteam 1936 in eine Krise geriet, nachdem die Stuttgarter 1934/35 mit dem W25 die Rennen noch dominiert hatte, kam seine grosse Chance: «Rudi» wurde zum Leiter der Versuchsabteilung für den Rennsport befördert. Er sollte unter dem Leiter der Rennabteilung, Dr. Fritz Nallinger, und in Zusammenarbeit mit dem Rennleiter Alfred Neubauer arbeiten. Uhlenhaut war sich bewusst, wie wenig er über Rennwagen wusste, und stürzte sich mit dem ihm eigenen Eifer in die Aufgabe: Er testete die Autos selber auf dem Nürburgring. Und wurde erstaunlich schnell erstaunlich schnell, unterbot gelegentlich sogar die Rundenzeiten der Fahrer des Teams. Er war auch der einzige Daimler-Benz-Ingenieur, der regelmässig mit dem Rennteam reiste, und unter seiner Leitung wurden wichtige Verbesserungen am Auto von 1937, dem W 125, vorgenommen. Uhlenhaut arbeitete zudem an den Programmen für den W154 und W165, bevor im September 1939 der Krieg ausbrach.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Mercedes-Benz bei der Wiederaufnahme der Produktion vor der gewaltigen Aufgabe, zum Wiederaufbau Deutschlands beizutragen und gleichzeitig eine profitable Nische in der Nachkriegswirtschaft zu finden. Wie die meisten europäischen Marken begann das Unternehmen mit preiswerten und effizienten Modellen, die das Vorkriegsdesign annahmen und für den einfachen Arbeiter gedacht waren, während es sich erst allmählich auf luxuriösere Angebote konzentrierte. Mit der Einführung des Modells 300 S im Jahr 1951 machte Mercedes deutlich, die Produktion von Luxus- und Sportwagen wieder aufnehmen zu wollen, und es war keine Überraschung, dass dies auch eine Rückkehr zum Motorsport bedeute. Die Rückkehr des Unternehmens auf die Rennstrecke begann sanft mit einem neuen Sportwagen mit der Bezeichnung 300 SL, der unter der Leitung von Rudolf Uhlenhaut entwickelt wurde. In seiner frühesten W194-Ausführung bereitete der 300 SL den Weg für die W198-Flügeltürer und -Roadster.
1950 hatte zum ersten Mal die Formel-1-Weltmeisterschaft stattgefunden. Doch schon 1952 war die höchste Motorsport-Klasse in einer Krise, es fanden sich kaum noch noch Teams, die um den Titel mitfahren konnten. Deshalb wurde von der FIA für 1954 ein neues Reglement angekündigt, das Saugmotoren mit 2,5 Liter Hubraum vorsah. Das Fahrzeug musste einen einzigen, mittigen Sitz haben, ansonsten waren die Vorschriften eher unspezifisch. Fritz Nallinger und seine Kollegen bei Mercedes-Benz erkannten in dieser neuen Formel die Gelegenheit, zu den Wurzeln des Unternehmens im Grand-Prix-Rennsport zurückzukehren, und mit der für die Stuttgarter typischen Effizienz wurde ein Plan in die Tat umgesetzt, um das bestmögliche Auto ins Rennen zu schicken. Es wurde eine neue, gut besetzte Rennabteilung geschaffen, der die umfangreiche Infrastruktur von Mercedes-Benz sowie ein anständiges Budget zur Verfügung stand. Als Leiter der Versuchsabteilung war Rudolf Uhlenhaut der verantwortliche Ingenieur, der die Entwicklung des neuen Grand-Prix-Modells beaufsichtigte. Er begann mit einem Gitterrohrrahmen mit schmalem Durchmesser, ähnlich dem Fahrgestell des W194-300 SL-Rennwagens. Dieses Chassis mit der Bezeichnung W196 R war mit einer Einzelradaufhängung vorne über Doppelquerlenker, Drehstabfedern und fortschrittlichen hydraulischen Teleskopstossdämpfern ausgestattet. Noch wichtiger war, dass die Hinterradaufhängung über eine von Uhlenhaut persönlich entwickelte Pendelachse mit niedrigem Drehpunkt verfügte, ein Konstruktionsmerkmal, das später im Serienfahrzeug 300 SL Roadster wieder auftauchte. Massive Alfin-Trommelbremsen wurden eingebaut, um den W196 R zu verlangsamen, und sie wurden innen montiert, um die ungefederte Masse zu verringern.
Da die Rennabteilung in der Zwischenkriegszeit sowohl aufgeladene Reihenachtzylinder- als auch V12-Motoren eingesetzt hatte, standen ihr mehrere Optionen zur Verfügung. Schliesslich entschied man sich für einen Reihenachtzylinder mit einem Hubraum von 2494 cm3. Der Motor, der um eine komplexe Hirth-Wälzlagerkurbelwelle herum konstruiert wurde, bestand im Wesentlichen aus zwei Vierzylindermotoren im Gleichlauf mit zwei Nockenwellen für jeden Einlass und Auslass. Dieses Schmuckstück war mit Rennkomponenten wie Doppelzündung und Trockensumpfschmierung ausgestattet und verfügte über einen revolutionären desmodromischen Ventiltrieb anstelle von Standardventilfedern sowie eine Hochdruck-Direkteinspritzung von Bosch, die eine zuverlässige und gleichmässige Leistungsentfaltung garantierte. Der speziell entwickelte M196-Motor leistete anfangs robuste 257 PS, die im Laufe von zwei Saisons schrittweise auf 290 PS verbessert wurden. Der Motor war tief im vorderen Teil des Wagens platziert, um 20 Grad geneigt, um Platz zu sparen, und mit einem hinten montierten Fünfganggetriebe gekoppelt, das über eine Einscheiben-Trockenkupplung betätigt wurde. Das Getriebe verfügte ungewöhnlicherweise über Synchronisierungen in den oberen vier Gängen, während ein Sperrdifferenzial für eine gute Traktion sorgen sollte. Der Kraftstoff wurde von einem speziellen 178-Liter-Tank mit unterteilten Schwallwänden bereitgestellt, die Schwappprobleme reduzierten.
Da die neue Formel so wenige Einschränkungen für die Karosserie vorsah, kamen Nallinger und Uhlenhaut zum Schluss, dass eine stromlinienförmige aerodynamische Karosserie mit geschlossenen Rädern für Hochgeschwindigkeitsstrecken optimal wäre, während eine Grand-Prix-Karosserie mit offenen Rädern ideal für kurvenreichere Strecken wäre. Die schlanke und zweckmässige torpedoförmige Karosserie des W196 R mit offenen Rädern wurde mit für die damalige Zeit weitgehend konventionellen Linien entworfen. Die stromlinienförmige Karosserie war dagegen einzigartig. Die niedrige und breite, sanft geschwungene Karosserie wies nur minimale Verzierungen auf und zeichnete sich hauptsächlich durch einen breiten Kühlergrill mit offenem Mund, Kühleinlässe an den hinteren Schulterhöckern und geformte Charakterlinien über den Oberseiten der vorderen Radkästen aus (ein Designmerkmal, das für die gesamte 300 SL-Modellreihe charakteristisch wurde und den Sportwagen der Marke eine feine Kontinuität verlieh). Diese stromlinienförmigen Karosserien wurden in begrenzter Stückzahl von der Rennabteilung aus der Magnesiumlegierung Elektron hergestellt, die eine noch leichtere Hülle als Aluminium möglich machten und ein ewicht von nur knapp 40 Kilo aufwies. Die Karosserien mit offenen Rädern wurden ebenfalls aus einer leichten Legierung hergestellt, obwohl die Karosserieproduktion später auf Stahlkarosserien umgestellt wurde, die in Sindelfingen gebaut wurden.
Natürlich war sich Alfred Neubauer, der langjährige Leiter des Mercedes-Benz-Rennstalls, bewusst, dass der Erfolg des W196 R vom fahrerischen Talent abhängen würde. Daher wurde schon früh in der Entwicklungsphase beschlossen, die besten verfügbaren Fahrer unter Vertrag zu nehmen. Während zunächst zwei deutsche Fahrer verpflichtet wurden, der Veteran Karl Kling und der aufstrebende Hans Herrmann, stand bald das dritte Teammitglied im Rampenlicht: der argentinische Rennfahrer Juan Manuel Fangio. Fangio war Anfang 1954 lediglich ein aufstrebendes Talent, das kurz vor dem Durchbruch stand. Zweifellos hatte Fangio sich mit seinem ersten Fahrertitel für Alfa Romeo im Jahr 1951 bereits einen Namen gemacht. Doch nach der Auflösung des Alfa-Romeo-Teams im Jahr 1952 dominierte Ferrari die folgenden zwei Jahre des Wettbewerbs. Fangio arbeitete geduldig mit dem Maserati-Team und im Sportwagenrennsport. Er errang wiederholt Siege, aber weitere Meisterschaften blieben ihm verwehrt, und mit Anfang vierzig hatten die Rennsportfans die Vorahnung, dass Fangios beste Tage bereits hinter ihm lagen. Doch Alfred Neubauer erinnerte sich an Fangios bemerkenswerte Leistung in einem Alfa Romeo beim Grossen Preis der Schweiz 1951 zu erinnern – er holte die Pole-Position, fuhr die schnellste Runde und belegte den ersten Platz. Neubauer wandte sich an Fangios Agenten wurde unterzeichnet. Doch als die Saison 1954 begann, war das neue Fahrzeug aus Stuttgart noch nicht fertiggestellt. Dies veranlasste Fangio, bei den ersten beiden Rennen für Maserati anzutreten und mal schnell die Grossen Preise in Argentinien und Belgien zu gewinnen.
Im Juli 1954 feierten die neuen Mercedes-Benz-Rennwagen ihr mit Spannung erwartetes Debüt beim Grossen Preis von Frankreich in Reims. Mit der Vorstellung eines Trios von W196 R Stromlinienwagen, deren Aussehen Ehrfurcht einflösste, da sie anders aussahen als alles, was man je zuvor bei einem Formel-1-Rennen gesehen hatte. Fangio, Kling und Herrmann qualifizierten sich für die Plätze 1, 2 und 7. Herrmann fuhr die schnellste Runde des Rennens, während Fangio und Kling einen beeindruckenden Doppelsieg errangen. Das Rennen war ein überwältigender Sieg für Mercedes-Benz bei seiner lang erwarteten Rückkehr in den Rennsport. Fangio qualifizierte sich dann für den Start von der Pole-Position beim Grossen Preis von Grossbritannien Ende Juli, kam im Regen aber nur zu einem vierten Platz. Das Team kehrte beim Grossen Preis von Deutschland auf dem Nürburgring Anfang August mit einem Team aus vier Fahrzeugen, bestehend aus drei offenen Rennwagen und einem Stromlinienwagen, zu seiner Form zurück. Das Rennen war das Debüt der offenen Version des W196 R. Fangio sicherte sich die Pole-Position und gewann das Rennen, während Kling mit einem offenen Wagen den vierten Platz belegte. Ein Team mit drei Wagen, alle mit offenen Wagen, erzielte beim Grossen Preis der Schweiz drei Wochen später fast identische Ergebnisse, wobei Fangio erneut gewann und Herrmann den dritten Platz belegte. Beim Grossen Preis von Italien auf der Rennstrecke von Monza Anfang September setzte Mercedes-Benz zwei Stromlinienwagen und ein Auto mit offenen Räder ein, obwohl Tests darauf hindeuteten, dass die Karosserie mit geschlossenen Kotflügeln schneller sein würden. Im Rennen führte ein junger britischer Privatfahrer namens Stirling Moss am Steuer eines Maserati 250F bis spät im Rennen, bevor er wegen eines gerissenen Öltanks aufgeben musste. Fangio in einem Stromlinienwagen und Herrmann in einem Wagen mit offenen Rädern fuhren auf die Plätze 1 und 4. Beim Grossen Preis von Spanien Ende Oktober, dem letzten Rennen des Jahres, belegte Fangio den dritten Platz unter drei Startern mit offenen Rädern. Die Legende von Juan Manuel Fangio war gewachsen, er gewann seine zweite Fahrer-Weltmeisterschaft.
Mitten in dieser brutalen Demonstration der Dominanz des W196 R wurde das hier gezeigte Fahrzeug mit der Fahrgestellnummer 00009/54 fertiggestellt. Ursprünglich als Monoposto mit offenen Rädern auf dem 2350 Millimeter langen Chassis mit langem Radstand von 1954 fertiggestellt und mit einer 54 in der Endung der Fahrgestellnummer versehen (Fahrzeuge von 1955 haben die Endung 55), wurde das Auto erstmals am 15. Dezember 1954 getestet. Für die Saison 1955 wurde der W196 R weiterentwickelt, um so wettbewerbsfähig wie möglich zu bleiben. Der Motor wurde verbessert, unter anderem durch den Einbau eines neuen Ansaugkrümmers, und es wurde beschlossen, bei fast allen Rennen des Jahres 1955 die Grand-Prix-Karosserien mit offenen Rädern einzusetzen. Die überarbeiteten Fahrzeuge waren etwa 70 Kilogramm leichter als ihre Vorgänger. Weitere Tests zeigten, dass die Continental-Reifen nicht das volle Potenzial des W196 R ausschöpfen konnten, sodass der Reifenhersteller aufgefordert wurde, ein besseres Produkt zu liefern.
Die Rennabteilung war erneut auf der Suche nach einem Top-Fahrtalent und rekrutierte den aufstrebenden 25-jährigen Briten Stirling Moss. Moss schrieb später über das Mercedes-Benz-Team: «Ihre Gründlichkeit und Bedachtsamkeit haben mich von Anfang an verblüfft. Es war, als wäre man in einer anderen Welt … Jede Rennstrecke wurde mathematisch analysiert … Neubauer selbst markierte und stoppte die Schaltvorgänge, Runde für Runde … Die Fahrer wurden angehört und respektiert, was in anderen Top-Teams oft nicht der Fall ist … Nichts war zu viel Mühe – und sie waren bereit, alles zu versuchen, was die Leistung verbessern könnte.» Es war jedoch Fangio, der mit einem Sieg beim Grossen Preis von Argentinien am 16. Januar 1955, dem ersten Rennen der Formel-1-Saison 1955, den Grundstein für den Erfolg legte. Da das nächste Formel-1-Punkte-Event erst Ende Mai auf dem Kalender stand, blieb das Team in Argentinien, um bei einigen Formula-Libre-Rennen das Fahrzeug weiter zu testen. Der Formel Libre Buenos Aires Grand Prix am 30. Januar 1955 sollte das erste Rennen für das hier gezeigte Auto mit der Fahrgestellnummer 00009/54 sein, das von niemand anderem als Juan Manuel Fangio als Wagen Nr. 2 gefahren wurde. Laut den vorliegenden Bauunterlagen der Rennabteilung sowie einer kürzlich von Mercedes-Benz bestätigten Information war das Chassis mit der Nummer 00009/54 mit einem «Sport 59»-Motor ausgestattet, offenbar ein Code für den 3,0-Liter-Motor M196, und mit einer Monoposto-Karosserie mit offenen Rädern versehen. Eines der Hauptziele des Teams bei diesem Nicht-Formel-1-Rennen war offenbar, diese Neuentwicklung des M196-Motors zu testen, der für den Einsatz im kommenden W196 S Sportwagen, dem 300 SLR, vorgesehen war. Moss, Kling und Herrmann schlossen sich Fangio an – jeder fuhr ein Auto mit offenen Rädern.
Das Format des Grossen Preises von Buenos Aires war etwas ungewöhnlich: zwei separate Läufe mit jeweils 30 Runden, wobei der Sieger durch die schnellste Gesamtzeit ermittelt wurde. Während Fangio sich in einem verregneten Qualifying die Pole-Position sicherte, übernahm Moss im ersten Lauf die Führung. Fangio setzte sich in der 13. Runde an die Spitze und behauptete kurzzeitig den ersten Platz, bevor er von Giuseppe Farinas Ferrari 625 überholt wurde. Diese Reihenfolge blieb bis zur Ziellinie bestehen, wobei Fangio 10,5 Sekunden Rückstand hatte. Während des zweiten Laufs wechselten viele Fahrer die Autos, und Fangio führte zunächst, bevor er von Moss überholt wurde, der den Lauf in einem spannenden Finish mit drei Sekunden Vorsprung gewann. Obwohl Fangio in beiden Läufen «nur» den zweiten Platz belegte, erreichte er mit 2:23:18,9 die niedrigste Gesamtzeit und schlug Moss um 11,9 Sekunden, den 625 Ferrari um mehr als eine halbe Minute und Kling um fast eine Minute. Damit sicherte er der Rennabteilung den Sieg bei diesem wichtigen ersten Einsatz für Chassisnummer 00009/54. Im Juni fuhren Fangio und Moss beim Grossen Preis von Belgien und beim Grossen Preis der Niederlande auf die Plätze 1 und 2, bevor eine Reihe von Grand Prix als Reaktion auf den Unfall in Le Mans abgesagt wurden. Als die Rennen Mitte Juli beim Grossen Preis von Grossbritannien in Aintree wieder aufgenommen wurden, dominierte das Mercedes-Benz-Team erneut, wobei der erfahrene Lokalmatador Moss ein Quartett aus vier Fahrzeugen zu einem souveränen 1-2-3-4-Ergebnis (Moss-Fangio-Kling-Taruffi) führte, dem einzigen Vierfachsieg in der Geschichte der Marke. Damit war die Bühne für das letzte Rennen der Saison bereitet – und für den letzten Renneinsatz von 00009/54: der Grosse Preis von Italien in Monza im September.
1955 wurde die Rennstrecke von Monza mit einer neuen Hochgeschwindigkeits-Kurve umgebaut, die seitdem im Motorsport legendär ist. Aufgrund dieser Entwicklung wusste die Rennabteilung bereits, dass die Strecke eine Stromlinien-Karosserie begünstigen würde, obwohl sie bis zu diesem Zeitpunkt in der Saison 1955 ausschliesslich den offenen Aufbau verwendet hatte. Bei den Tests in Monza im August experimentierte das Team mit einem neuen, hervorstehenden Bugteil für den Stromlinienwagen, aber die Ergebnisse waren nicht eindeutig. Letztendlich wurde das Chassis mit mittlerem Radstand ausgewählt, um mit einer neuen, längenangepassten Stromlinienwagen-Karosserie im Originalstil ausgestattet zu werden, mit Ausnahme eines neuen Lufteinlasses neben der Motorhaube, um den geneigten Motor mit mehr Atem zu versorgen. In Untertürkheim wurden zwei solcher Wagen gebaut. Beim Training für das Rennen einen Monat später erwies sich der Streamliner mit mittlerem Radstand bei hohen Geschwindigkeiten als unruhig. Fangio setzte daraufhin einen Ersatz-Streamliner ein, der auf einem Original-Chassis mit langem Radstand aus dem Jahr 1954 aufgebaut war, und Moss forderte schnell ein identisches Auto an, sodass Neubauer die Werkstatt kontaktierte und die schnellstmögliche Lieferung nach Monza anordnete. Ein Ersatzchassis mit langem Radstand, Nummer 00009/54, wurde mit einer Stromlinien-Karosserie versehen und sofort nach Monza geschickt.
Mercedes-Benz schickte acht Autos, fast alle mit dem W196 R, zum Rennen, das der Schwanengesang des Modells im Rennsport werden sollte. Von den acht Autos meldete Mercedes-Benz vier für das Rennen an, wobei Fangio und Moss in W196 R Streamlinern und Kling und Piero Taruffi auf W196 R Monopostos mit offenen Rädern antraten. Fangio sicherte sich die Pole-Position, während Moss mit nur drei Zehntelsekunden Rückstand auf Fangio den zweiten Startplatz belegte. Kling qualifizierte sich als Dritter und Taruffi als Neunter; der Vorteil der Streamliner-Karosserie auf der schnellen Strecke von Monza war offensichtlich. Von Anfang an konnten Fangio und Moss ihre Startpositionen 1 und 2 halten. In der neunten Runde des Rennens übernahm Moss die Führung von Fangio, aber nur für kurze Zeit, Fangio konterte und behielt die erste Position für den Rest des Rennens. Moss konnte sich bis zur 18. Runde auf dem zweiten Platz halten, musste dann aber an die Box, um die Windschutzscheibe zu ersetzen, wodurch er auf den achten Platz zurückfiel – und musste dann nach 27 Runden wegen eines defekten Kolbens im fünften Zylinder aufgeben. Obwohl Moss nur etwas mehr als die Hälfte des Rennens absolvierte, konnte er mit dem Chassis Nummer 00009/54 mit einer beeindruckenden Zeit von 2:46,900 die schnellste Runde des Rennens erzielen. Das bedeutete eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 215,7 km/h – und brachte ihm einen Punkt für die Formel-1-Fahrerwertung ein. Am Ende der Formel-1-Saison 1955 gewann Fangio seine zweite Fahrerweltmeisterschaft in Folge, während Moss den zweiten Platz belegte und damit die Legende des W196 R besiegelte. Moss hatte inzwischen mit dem 300 SLR zwei Siege bei der Sportwagen-Weltmeisterschaft errungen, darunter seinen legendären Sieg bei der Mille Miglia 1955 im Wagen mit der Startnummer 722 mit seinem Beifahrer Denis Jenkinson. Dies reichte aus, um Ferrari knapp zu übertreffen und die Weltmeisterschaft im Sportwagenrennsport zu gewinnen. Bezeichnenderweise war der 300 SLR, intern als W196 S bezeichnet, die zweisitzige Sportwagenentwicklung des W196 R; der 300 SLR profitierte vom grösseren 3,0-Liter-Motor, wie er sich in Buenos Aires bei Chassis-Nummer 00009/54 bewährt hatte. Die Erfolgsbilanz des W196 R war nun unanfechtbar. In zwei Saisons hatte das Modell drei Meisterschaften in zwei verschiedenen Rennserien gewonnen. Bei 12 Einsätzen bei Formel-1-Rennen hatte der W 196 R neunmal souverän gewonnen und zwei weitere Rennen ohne Punktewertung gewonnen, was insgesamt 11 Siegen bei 14 Starts entspricht.
Nachdem Mercedes-Benz bewiesen hatte, dass es auf der Rennstrecke dominieren konnte, zog sich das Unternehmen nach 1955 erneut aus dem Motorsport zurück und verabschiedete sich für die nächsten Jahrzehnte – und sorgte auch so dafür, dass die bemerkenswerte Legende des W196 R nie in Vergessenheit geriet. Ende 1955 waren noch zehn verschiedene vollständige W196 R-Modelle in fahrbereitem Zustand, darunter vier mit Stromlinienwagen-Karosserie. Insgesamt wurden vierzehn Fahrgestelle gebaut, die mit den Nummern 1 bis 15 bezeichnet wurden. (Die Fahrgestellnummern 1 und 15 wurden schliesslich verschrottet, und die Nummer 11 wurde nie einem Fahrgestell zugewiesen.) Im Oktober 1955 veranstaltete Mercedes-Benz eine offizielle Zeremonie, um den W 196 in den Ruhestand zu schicken. Die Autos wurden öffentlich in Planen gehüllt, bevor sie in das firmeneigene Museum in Stuttgart gebracht wurden. Während das Daimler-Benz Museum zunächst alle 10 verbliebenen W196 R behielt, wurden schliesslich vier Autos an renommierte Museen auf der ganzen Welt gespendet, darunter auch Chassisnummer 00009/54.
Der Weg von Chassisnummer 00009/54 nach dem Rennen begann im September 1964, als eine Delegation des Mercedes-Benz Club of America das Untertürkheimer Werk der Marke in Stuttgart besuchte. Wie aus einer Fülle von Korrespondenz hervorgeht, kam es während dieses Besuchs zu einem Gespräch zwischen Wilhelm «Bill» Spoerle vom Club und Dr.-Ing. Friedrich Schildberger vom Hersteller über die Spende eines Rennwagens für das «geplante neue Museum auf dem Gelände des Indianapolis Motor Speedway». Wilhelm „Bill“ Spoerle, ein deutscher Einwanderer, der vor dem Krieg in der Motorrad-Rennabteilung von NSU gearbeitet hatte, war 1956 nach Indianapolis gezogen, um an Rennwagen zu arbeiten, und hatte mehrere Jahre lang eine Position bei der aufstrebenden Firma Dreyer Motorsports inne. 1963 wurde Spoerle schliesslich von Anton «Tony» Hulman Jr. abgeworben und Restaurierungsleiter im relativ neuen Museum in der Brickyard. Als Spoerle Untertürkheim besuchte, arbeitete er bereits für Tony Hulman und ihm war sicherlich klar, dass es keinen besseren Ort für eine Spende des W196 geben konnte als das Indianapolis Motor Speedway Museum.
Wie der Präsident von Mercedes-Benz, Walter Hitzinger, und der Chefingenieur Dr. Nallinger in einem Brief an Hulman im März 1965 erklärten: «Angesichts der besonderen Bedeutung von Indianapolis in der Geschichte des Automobilrennsports und insbesondere des Beitrags unseres Unternehmens haben wir uns nun entschlossen, Ihnen ein stromlinienförmiges 2,5-Liter-Auto, Typ W196, Baujahr 1954, als Geschenk für die Ausstellung in Ihrem Museum zu überreichen.» Mercedes-Benz hatte eine Verbindung zu Amerikas grösstem Rennen, da das Unternehmen das Rennen 1915 bei seiner fünften Teilnahme gewann, als Ralph DePalma einen Mercedes zum Sieg fuhr. Dr. Schildberger machte sich daran, den W 196 R wieder in Betrieb zu nehmen, damit er bei einer offiziellen Präsentation in der Brickyard gefahren werden konnte, die für das Wochenende des Indianapolis 500 von 1965 geplant war. Für diese Ausstellung bestellte Mercedes-Benz die Lieferung von 50 Gallonen Rennkraftstoff von Esso (Exxon). Der Stromlinienwagen wurde Ende April über den Hafen von Baltimore verschifft und per LKW nach Indianapolis transportiert. Der Mercedes-Benz wurde am Sonntag, dem 30. Mai 1965, offiziell an die Indianapolis Motor Speedway Foundation gespendet und trat an diesem Wochenende zweimal auf. Das erste Mal bei einer informellen Präsentation nach dem jährlichen Fahrertreffen, bei der das Auto von Peter DePaolo zu Ehren des Mercedes-Sieges vor 50 Jahren durch seinen Onkel Ralph DePalma vorgeführt wurde. Am darauffolgenden Tag sass DePaolo vor dem Hauptrennen am Montag erneut am Steuer, nachdem das Auto offiziell von Mercedes-Benz dem IMS Museum übergeben worden war. Fast sechs Jahrzehnte lang wurde der W196 R vom Indianapolis Motor Speedway Museum sorgfältig aufbewahrt und gewartet, am 1. Februar 2025 wird das Fahrzeug von RM Sotheby’s versteigert. Es werden mehr als 50 Millionen Dollar erwartet.
Weitere feine Automobile haben wir in unserem Archiv.
Ferrari 625? Nie gehört und das Hirn rechnet hoch und kommt auf 7,5 Liter Hubraum.
Google sagt nix da, vier Zylinder! Und dann regte sich der alte Enzo über einen 6-Zylinder Dino auf?
Faszinierend die Rennwagen aus dieser Zeit, keinerlei Sicherheit, aber schon sehr sehr schnell. Da sitzen die Jungs auf Gartenstuhlpolstern im Design von Berta Benz´ Küchentüchern und fahren Rekorde. Wahnsinn damals.
oh, da haben wir doch schon viel zu den 625ern. zum Beispiel: https://radical-mag.com/2024/01/31/bilderstrecke-ferrari-tipo-625/
oder: https://radical-mag.com/2023/12/08/related-ferrari-625-tf/
und auch noch: https://radical-mag.com/2024/08/01/ferrari-625-trc/
Danke!