Viel schneller schnell
Dann sagt Andy: «Mach mal langsam. Erster Gang. Dann hast du ab der Autobahneinfahrt etwa anderthalb Kilometer. Hau voll drauf.»
Es werden dann doch etwas mehr als die mitteleuropäischen Richtgeschwindigkeiten. Minim mehr. Später, als sich Puls und Fahrzeug und vor allem Fahrer etwas beruhigt hatten, haben wir es auch gesehen. Denn das Fahrzeug verfügt über Anzeigen, welche die erreichten Höchstleistungen sammeln, Vmax, maximales Drehmoment (1504 von möglichen 1600 Nm), Querbeschleunigung (davon schreiben wir dann noch, später). Das ist dann – sehr zurückhaltend ausgedrückt – beeindruckend, für den Fahrer, vor allem aber: vom Bugatti Chiron Pur Sport.
Der 8-Liter-V-VR-16-Zylinder-Motor darf als bekannt vorausgesetzt werden. Das über 700 Kilo schwere Trumm begann seine Karriere 2005 im Bugatti Veyron 16.4 mit 1001 PS. Beim Nachfolger, dem seit 2016 gebauten Chiron, stieg die Leistung leicht an, es sind jetzt 1500 PS und 1600 Nm maximales Drehmoment, dies zwischen 2000 und 6000/min; die sanfte Leistungskur verdankt der Chiron vor allem den deutlich grösseren Turbos. Vier sind es insgesamt, wobei nur zwei davon von Beginn an mittun dürfen, die anderen zwei kommen als zweite Luft erst ab 3800/min zum Einsatz. Was noch so manch ein Chiron-Fahrer wohl gar nie erleben wird.
Die entscheidenden Unterschiede zwischen dem Pur Sport – auf 60 Stück limitiert, 3 Millionen Euro teuer – und dem «ganz normalen» Chiron finden sich im Getriebe. Die Gesamtübersetzung ist 15 Prozent kürzer ausgelegt, deshalb ist der Pur Sport auch nur 350 km/h schnell. «Wir haben jeden Gang neu ausgelegt und übersetzt. Die Fahrstufen liegen nun enger zusammen, was kürzere Gangsprünge ermöglicht und die Performance nochmals steigert. Vor allem aus Kurven heraus beschleunigt der Chiron Pur Sport in Verbindung mit dem gesteigerten Grip und dem deutlich direkter ausgelegten Fahrwerk noch brutaler», erklärt Andy Wallace, Le-Mans-Sieger und bei Bugatti seit Jahren dafür zuständig, Kunden (und Journalisten) die Möglichkeiten der Fahrzeuge aus Molsheim zu ergründen.
Gleichzeitig heben die Franzosen die maximale Drehzahl des V-VR-16-Motors um 200 Umdrehungen auf 6900/min an. Das sorgt zusammen mit der kürzeren Gesamtübersetzung für eine deutlich bessere Elastizität: So beschleunigt der Chiron Pur Sport im 6. Gang von 60 auf 120 km/h fast zwei Sekunden schneller als der auch nicht wirklich träge Chiron. Insgesamt sollen die Elastizitätswerte um 40 Prozent über denen des Chiron liegen. Ach ja, etwa 60’000 Liter Luft werden in einer Minute in die Verbrennungsräume des Bugatti gepumpt, rund 800 Liter Wasser pro Minute gewährleisten die Kühlung.
Zahlen. Grün ist aber nur des Lebens Baum. Und dieser ist im Fall des Pur Sport nur sehr schwer in Worte zu fassen. Klar, die Beschleunigung ist unfassbar, Launch Control, Bremse loslassen, voll auf den Pinsel – es sollen 5,5 Sekunden sein von 0 auf 200 km/h (und unter den richtigen Voraussetzung 2,3 auf 100). Und 11,7 Sekunden auf 300 km/h. Man legt den Kopf besser von Anfang an an die Kopfstütze, sonst nickt man etwas gar heftig, wenn der Pur Sport losknallt. Aber dieses Spektakel bieten gewisse E-Fahrzeuge unterdessen ja auch. Wenn auch nicht mit diesem Sound, dieser deshalb als noch viel brachialer empfundenen Leistungsentfaltung. Andererseits: Geradeaus kann ja jeder.
Anstelle des hydraulischen Heckflügels des Chiron hat Bugatti dem Pur Sport hinten ein 1,90 Meter breites Karbon-Brett montiert. Die Folge: Rund 10 Kilo weniger. Und vor allem: deutlich mehr Abtrieb. Nicht, dass es jetzt wirklich etwas Vergleichbares geben würde, wir sind auch den Chiron nicht gefahren, doch selbst auf der Landstrasse ist das alles tatsächlich spürbar: Das 2-Tonnen-Vieh macht keinen Wank. Man ist wie mit allen Supersportwagen eh viel zu schnell (mit dem Pur Sport ist man noch viel schneller schnell), muss folglich vor jeder noch so sanften Biegung auch viel massiver in die Eisen (die hier aus keramischem, mit Kohlenstofffasern verstärktem Siliziumkarbid bestehen; die Bremssättel kommen aus dem 3-D-Drucker und sind in Titan gefertigt). Das ist zwar alles fein dosierbar, doch wirkt trotzdem wie die sprichwörtliche Wand. Durch die Biegung wirkt die gleiche Physik wie auch bei einem Fiat Panda, doch es sind halt ganz andere Welten dank der Michelin Sport Cup 2 R (vorne 285/30 R20, hinten 355/25 R21), einer doch recht straffen Federung (plus 65 Prozent härter vorne, plus 33 Prozent hinten) und einem neuen Sturz von je minus 2,5 Grad an allen vier Rädern. Was übrigens auch richtig gut aussieht, also: sehr, sehr böse. Dagegen wirkt ein klassischer Chiron schon fast elegant.
Für den Pur Sport erdachte Frank Heyl, Head of Exterior Design und stellvertretender Chefdesigner bei Bugatti, gemeinsam mit der Entwicklungsabteilung eine um vier Kilogramm leichtere Felge aus Magnesium – mit optionalen Aero-Flügeln. Ringförmig angeordnet sorgen diese für eine optimale Belüftung der Räder. Und verbessern zudem die Aerodynamik. Die in der Felge montierten Ringe saugen bei der Fahrt Luft aus dem Rad und transportieren sie ab. Eine störende Verwirbelung im Radbereich unterbindet diese Erfindung, verbessert dafür die Seitenströmung. Mit einer Gewichtsersparnis von 16 Kilogramm sinkt nicht nur das Leergewicht, sondern es verringern sich auch die ungefederten Massen. «Mit der Summe aller Veränderungen fährt sich der Pur Sport präziser, direkter und vorhersehbarer, wegen der reduzierten ungefederten Massen mit besserer Traktion, da das Rad besser auf dem Boden gehalten wird. Jeder Fahrer spürt sofort die Leichtigkeit in Kurven», erklärt Jachin Schwalbe, Leiter Fahrwerkwerkentwicklung bei Bugatti. Eine gelungene Interpretation von: Form follows performance.
Wobei wir jetzt aber immer noch nicht auf den Punkt gekommen sind: Man kommt also unfassbar schnell auf die Kurve zu, bremst den Zweitonner unfassbar präzis ein, kommt gut durch den Bogen – und dann geht es wieder ab wie sonst bei keinem anderen Strassengerät. Klar, da hilft der Allradantrieb und eine ganz heftige Flut an Elektronik, aber das ist alles so fein aufeinander und überhaupt abgestimmt, dass der Fahrer davon nichts merkt, sich als Herr der Lage fühlt, noch so denkt: fährt sich ja wie ein flotter Golf. Bis man dann einen Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige wirft. Und auf die Anzeige mit der Querbeschleunigung: 1,6 g seien problemlos möglich, sagt Andy, wir kamen nur auf 1,2 g – und hatten schon das Gefühl, das Kleinhirn wolle sich aus den Ohren in Richtung Seitenscheibe verabschieden.
Natürlich wäre es interessant, den Bugatti auf der Rennstrecke zu fahren. Die Frage ist da allerdings, ob das Talent des Piloten ausreicht, um den Wagen auch nur so ein bisschen zu kitzeln. Dass man sie so selten bei Track-Days sieht, liegt nicht nur an ihrer Seltenheit und wohl auch nicht bloss am Preisschild, sondern wahrscheinlich in erster Linie daran, dass gerade der Pur Sport schon eine kundige Hand braucht. Andy, von ihm hatten wir es schon, erzählt dann so Anekdoten, dass die Reifen schon unbedingt die richtige Temperatur brauchen, «im Frühling, als es einmal recht kühl war, stand ich dann mitten im Kreisel im 90-Grad-Winkel zur Wand, das war dann: knapp.»
Schön ist, dass sich der Pur Sport im Gegensatz zu anderen wirklich groben Geräten auch in der Stadt oder im Stossverkehr ganz brav bewegen lässt; er ruckelt nicht, er lässt sich auch ganz sanft anfahren. Doch seine wahre Domäne ist kurviges, breites Geläuf, wie er da am Dorfausgang einmal kurz durchatmet, zwei oder auch drei Gänge zurückschaltet und dann den Hammer, ach, was das ist mindestens ein Bagger, eine Dampfwalze fallen lässt – irgendwie ist man nach der Ausfahrt mit dem Bugatti so ein bisschen verloren für die restliche Auto-Welt. Ebenfalls wunderbar: Wenn man dann vom Gas geht und die Luft durch die Wastegates entweicht und die gewaltige 8-Liter-Maschine sich wieder entspannt, das ist ein Geräusch, das süchtig macht.
Ansonsten haben wir es mit einem extrem feinen Automobil zu tun. Der Innenraum ist selbstverständlich höchst edel – und gleichzeitig betont sportlich gehalten, pur und auf das Wesentliche reduziert. Mit viel, viel Alcantara, dies auch deshalb, weil es leichter ist als Leder. In die Türverkleidungen werden dynamische Muster in das Alcantara gelasert sowie in Kontrastfarbe mit metallischem Textil hinterlegt. Alcantara sorgt zudem für optimalen Grip am Lenkrad und für besseren Seitenhalt auf den Sitzen. Alle Zierteile und Bedienelemente sind aus Aluminium oder Titan und schwarz eloxiert; farbliche Akzente bieten dafür die Kontrastnähte in Kreuzstich, die 12-Uhr-Spange am Lenkrad sowie die blaue Mittelspange. Das Gesamtpaket sieht schon gut aus, höchst wertig – und gefällt bei allem Purismus mit ausgezeichnetem (Langstrecken-)Komfort.
Nein, 1500 PS braucht niemand. Und die drei Milliönchen – netto und in Euro, versteht sich – hat wohl auch nicht jeder als Spaziergeld. Doch darum geht es auch gar nicht: Es ist in erster Linie wunderbar, dass es solche Fahrzeuge wie den Bugatti Chiron Pur Sport überhaupt noch gibt. Die Summe seiner Eigenschaften ergeben einen ebenso opulenten wie auch puristischen Wahnsinn, der absolut faszinierend bleibt. Irgendwann werden die Bugatti auch elektrisch werden (der Nachfolger des Chiron ist es allerdings noch nicht…), und dann werden wir Fahrzeuge wie den Pur Sport nicht nur vermissen, sondern wie Götzen verehren.
Photos: Vesa Eskola. Mehr adrette Fahrzeuge finden Sie in unserem Archiv. Und wir haben eine Sammlung der Chiron eröffnet – in ein paar Jahren wird mal uns dankbar sein, vielleicht.
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